gisela elsner

aus HEILIG BLUT



Warum geben Sie eigentlich nicht zu, daß Sie Angst vor Rehen haben, fragte Lüßl.
Weil es nicht zutrifft, sagte der junge Gösch.
Aber die Herren zeigten ihm mit einem kurzen, kehligen, zornig klingenden Gelächter, daß sie ihm keinen Glauben schenkten.
Diese Antwort habe ich, offen gesagt, erwartet, meinte Glaubrecht.
Er lügt doch nur, weil es ihm peinlich ist, die Wahrheit zu gestehen, sagte Lüßl.
Wenn ich Angst vor Rehen hätte, würde ich es auch nicht zugeben, erwiderte Hächler, ehe er mit Lüßl und Glaubrecht weiterging.
Der junge Gösch rührte sich zunächst nicht von der Stelle. Für einen Augenblick war er dicht daran, kehrt zumachen und zur Hütte zurückzugehen. Dann veranlaßte ihn jedoch die Furcht vor den Wölfen dazu, den Herren zu folgen, die sich jetzt mit großen Schritten dem menschenverlassenen Tal näherten, über das gerade ein paar fette Krähen hinwegflogen. Während er hinter ihnen herlief, warf er ihnen haßerfüllte Blicke zu. Er ignorierte nun das Knacken der abgebrochenen Ästchen unter seinen Sohlen. Auch war er viel zu aufgebracht, um auf die Landschaft zu achten, die sowieso vergleichsweise monoton war. Ohne nach rechts oder links zu schauen, stampfte er voran. Erst als er die wacklige Holzbrücke überquert hatte, die über den seichten Bach führte, der sich durch das Tal schlängelte, blieb er kurzfristig stehen und sah hinauf zu dem Berg, der vor ihm in den dichtbewölkten Himmel ragte. Er zweifelte nicht mehr daran, daß es sich bei diesem Berg um den Deuschelberg handelte. Er fand ihn keineswegs beeindruckend, geschweige denn imposant. Es reizte ihn auch nicht im geringsten, seinen kahlen Gipfel zu erklimmen. Obwohl diese Gegend von der Industrialisierung wie vom Massentourismus noch weitgehend unberührt geblieben war, interessierte sie ihn viel zu wenig, als daß er aus freien Stücken einen Berg bestiegen hätte, um sie aus der Vogelperspektive betrachten zu können. Es erschien ihm absurd, daß er dennoch drauf und dran war, es zu tun. Trotzdem ging er mit der Sturheit eines subalternen Befehlsempfängers weiter, der es anderen überläßt, sich über den Sinn und Zweck seines Tuns und Lassens den Kopf zu zerbrechen. Er stellte fest, daß sich die drei Herren jetzt auf den Einödhof zubewegten, der am Fuße des Deuschelbergs stand. Aus Angst, den Anschluß zu verpassen, beschleunigte er seine Schritte und holte sie kurz vor dem Gehöft ein, aus dem ein wütendes Hundegebell drang. Er wollte sie gerade fragen, wie hoch der Deuschelberg sei, als er eine Dogge zähnefletschend aus dem Tor des Gehöfts stürzen sah. Mit einem bösartigen Knurren blieb sie mitten auf dem schmalen Weg stehen, der bergaufwärts führte, und hinderte die Herren am Weitergehen. Während sich die letzteren vergeblich mühten, das Tier durch ihr Gebrüll einzuschüchtern, tauchte im Tor des Gehöfts ein etwa fünfzehnjähriges, dickes Mädchen auf, dessen mongoloide Gesichtszüge verrieten, daß es schwachsinnig war. Wie ein Bauernmädchen sah es allerdings nicht aus. Denn es trug ein dottergelbes Stirnband und eines jener buntgemusterten, schlechtsitzenden indischen Folkloregewänder, die sich seit geraumer Zeit in Künstler- und Intellektuellenkreisen einer großen Beliebtheit erfreuen. Offensichtlich vergnügt über den Anblick der vier Fremden, klatschte es in die Hände, hob daraufhin den Rock seines knöchellangen Gewandes mit der Schamlosigkeit einer Dreijährigen bis zu seinen unförmigen nackten Schenkeln, die voller blauer Flecke waren, und näherte sich schließlich voller Zutraulichkeit den Herren, die ihm klarzumachen suchten, daß es die Dogge, deren Besitzer allen Anschein nach außer Hauses war, zur Ordnung rufen sollte.
Bist du zu blöd, um den Hund festzuhalten, schrie Lüßl mit einer nahezu kreischenden Stimme und er deutete auf das Halsband der Dogge, die noch immer bösartig knurrte und sich nicht von der Stelle rührte.
Aber die Schwachsinnige gaffte ihn völlig verständnislos an und brach dann in ein schallendes Gelächter aus, für das die Herren ihrerseits keinerlei Verständnis aufbrachten.
Mißgeburten wie dich müßte man in aller Stille mit einer Spritze ins Jenseits befördern, zischte Hächler dem Mädchen zu, ehe er einen Schritt auf die Dogge zu tat, die keinen Zentimeter zurückwich. Allem Anschein nach bereit, ihm an die Kehle zu springen, stand sie da und funkelte ihn mit blutunterlaufenen Augen an.
Wir sollten besser ein Stück um den Deuschelberg herumgehen, meinte Lüßl. Es gibt da einen zweiten Weg, auf dem man ihn besteigen kann.
Wollen Sie etwa wegen eines räudigen Köters Fersengeld geben, erkundigte sich Hächler, der immer wütender darüber wurde, daß er von einem Hund am Weitergehen gehindert wurde.
Es geht nicht darum, ob ich Fersengeld gebe oder nicht, erwiderte Lüßl. Es geht darum, daß wir nur unsere Zeit vergeuden, wenn wir hier länger stehen bleiben.
Wir müssen den Deuschelberg doch nicht unbedingt von hier aus besteigen, meinte Glaubrecht.
Ich sehe nicht ein, warum ich einen Umweg machen soll, entgegnete Hächler, und er versuchte, einen weiteren Schritt auf die Dogge zu zutun, deren Fell sich im Nacken und auf dem Rückgrat sträubte.
Doch statt sich von ihm verscheuchen zu lassen, zwang ihn das Tier, indem es zu einem Sprung ansetzte, dazu, mitten in der Bewegung innezuhalten.
Verfluchtes Drecksvieh, zischte er mit einem wutgeröteten Gesicht, ehe er sich Lüßl zuwendete, der ihn am Ärmel zupfte.
So begreifen Sie doch endlich, daß uns keine andere Wahl bleibt, als einen Umweg zu machen, meinte der Letzere.
Das einzige, was ich mittlerweile begriffen habe, ist, daß Sie drauf und dran sind, vor einem räudigen Köter zu Kreuze zu kriechen, stieß Hächler hervor.
An der Dogge werden wir nicht mit heiler Haut vorbeikommen, sagte Glaubrecht.
Das wäre ja gelacht, wenn wir an ihr nicht mit heiler Haut vorbei kommen würden, rief Hächler und er riß ohne lange zu fackeln das Gewehr von seiner Schulter und zielte auf die Dogge.
Die Kugel, die er trotz der Proteste von seiten Lüßls und Glaubrechts abfeuerte, traf sie zwischen ihren blutunterlaufenen Augen. Mit einem langgezogenen Aufjaulen brach sie zusammen und stürzte zu Boden. Während das Blut, das aus der Wunde tropfte, den Schnee rings um ihren Kopf rot zu färben begann, warf sich das schwachsinnige Mädchen schluchzend auf den Hundekadaver und bedeckte ihn mit Küssen. Ihr Gefühlsausbruch berührte die Herren peinlich. Mit betretenen Mienen starrten sie auf die Schwachsinnige, die sich jetzt mit dem Hundekadaver, den sie mit den Armen und Beinen umschlungen hatte, auf dem Weg hin und her wälzte und dabei ihr Gesicht, ihr Folkloregewand und ihre Hände mit Blut besudelte. Für einen Augenblick schienen sie nicht zu wissen, was sie sagen sollten. Während Glaubrecht sein Gebiß aus dem Mund nahm und mehrmals in die Luft warf, ehe er es sich wieder zwischen die Lippen schob, räusperte sich Hächler so lange, bis er husten mußte. Nur Lüßl zeigte Anzeichen einer allerdings nicht schweren, seelischen Erschütterung. Er atmete nämlich minutenlang dermaßen hechelnd, daß man hätte meinen können, er habe einen Dauerlauf hinter sich.
Schade um den schönen Hund, sagte er schließlich und er warf Hächler einen vorwurfsvollen Blick zu.
Nun kehren Sie doch nicht plötzlich den Tierfreund heraus, rief der.
Sie hätten die Dogge weißgott nicht gleich erschießen müssen, sagte Glaubrecht. Sie hat Sie ja nicht einmal gebissen.
Sie meinen wohl, ich hätte mich, bevor ich sie erschossen habe, erst noch von ihr beißen lassen sollen, erkundigte sich Hächler.
Sie können von Glück reden, wenn Ihnen der Besitzer dieser Dogge keine Scherereien macht, sagte Lüßl.
Auf eine Schererei mehr oder weniger kommt es mir nach all dem, was ich bereits in meinem Leben durchgestanden habe, auch nicht mehr an, erwiderte Hächler und er versetzte dem Hundekadaver einen heftigen Tritt, der die Schwachsinnige, die das tote Tier noch immer umschlungen hielt, jäh hochspringen und schreiend zum Gehöft stürzen ließ, ehe er hinkend bergaufwärts zu steigen begann.



mit freundlicher genehmigung des verbrecher verlags berlin
mehr?