RMS revisited

ronald m. schernikau im gespräch mit stefan ripplinger, westberlin, 6.6. 1987

im jahr 1987 plante der ROWOHLT-verlag eine illustrierte ausgabe von ronald m. schernikaus filmischer erzählung so schön. aus diesem anlaß unterhielt ich mich mit dem autor, seit drei jahren ein enger freund, ausführlich über seine literatur. ein publikationsort für dieses gespräch war noch nicht bestimmt. die erzählung wurde am ende doch nicht veröffentlicht, deshalb habe ich das gespräch erst ein jahr nach schernikaus tod transkribiert. es sind seither daraus wenige brocken veröffentlicht worden. der weitaus größte teil erscheint hier zum ersten mal und, wie vor 25 jahren geplant, als begleitung von so schön (die separate ausgabe erscheint dieser tage im VERBRECHER-verlag).

in der vorliegenden fassung [online revision 8] ist das gespräch, das sich über zweieinhalb stunden erstreckte, im wesentlichen vollständig wiedergegeben. lediglich meine beiträge machten durch ihren tastenden charakter straffungen notwendig. längere auslassungen sind jeweils gekennzeichnet, versprecher usw. wurden unterdrückt, grammatische und sachliche fehler stillschweigend verbessert.

neukölln, august 2012
r.



STEFAN RIPPLINGER: seit dem großen erfolg deines ersten buches kleinstadtnovelle sind ganze sieben jahre vergangen. von dir sind gelegentlich artikel, pamphlete, gedichtbesprechungen und vor zwei jahren in limitierter auflage petra. ein märchen erschienen. nach dem vielbeachteten einstand also erstmal ruhe, wenn auch mit sporadischen lebenszeichen. wie sollte die literarische öffentlichkeit – nehmen wir für einen augenblick an, es gäbe sie – dieses schweigen auffassen? selbstauferlegte abstinenz, krise des schriftstellers (lacht) oder abschottung des marktes, wenn nicht indirekte zensur?

RONALD M. SCHERNIKAU: direkte zensur! gehen wir einen schritt weiter. die frage ist, was ist zensur und wie setzt sie sich durch, in welchen mechanismen. aber ich war ja ganz ganz fleißig, ich bin ja einer der fleißigsten schriftsteller, die ich kenne, ich habe ja jedes jahr ein buch geschrieben.

SR: was könnte der grund dafür sein, daß einem zunächst erfolgreichen autor die möglichkeit verweigert wird, weiter zu publizieren?

RMS: es ist auch tatsächlich etwas, das niemand vorhergesehen hat. es war ganz einfach so, daß mein zweites buch, also die heftige variante des lockerseins, die ROTBUCH-leute abgelehnt haben, mit dem hinweis, daß ich es ja sicher ganz einfach hätte, das loszuwerden und sie sich insofern den vorwurf der zensur, den ich ihnen gemacht habe, nicht gefallen lassen könnten. sie haben es aus politischen gründen abgelehnt. das fünfte kapitel ist die rede eines kommunisten, die der einen anderen hauptfigur ihre zukunft erzählt, also mit einem literarischen kunstgriff es versucht, eine perspektive hineinzubringen.

und das haben sie mir völlig übel genommen. es gab stimmen im verlag, die gesagt haben: „wir drucken ja auch kein nazi-buch“ und andere, die gesagt haben: „na, so wollen wir’s vielleicht nicht sagen, aber, nich’ wahr, mit so einem kommunistischen hammer da am schluß, das können wir nicht machen.“ am anfang haben sie noch gesagt: „diese kröte schlucken wir!“ und waren ganz wohlgemut. aber es waren dann wirklich militante teile im verlage, die gesagt haben: „dieses buch nur über meine leiche!“ INGRID KARSUNKE, nicht wahr, die gedroht hat, den verlag zu verlassen. und so wurde das nicht gedruckt.

das ist erstmal diese ganz direkte und wirklich blöde geschichte. und danach stellt sich die frage, die du gestellt hast: warum kommt so ein manuskript von jemandem, der schon ein buch gemacht hat und relativ erfolgreich gemacht hat, warum kommt das nicht durch in den verlagen?

SR: insbesondere, wenn man bedenkt, daß die kleinstadtnovelle nicht unpolitisch war. aber sie paßte besser. die politischen aussagen der kleinstadtnovelle waren besser aufzunehmen, weil sie in die zeit paßten. ich würde das die zeit der bekenntnisliteratur nennen. wie würdest du heute den erfolg der kleinstadtnovelle beurteilen? beruhte er auf einem mißverständnis oder war das bekenntnishafte beabsichtigt?

RMS: sie kommt von einer literatur her, die in der kleinstadtnovelle ja abfällig auch zitiert wird, also VERENA STEFAN und solche sachen, und aus der schwulenbewegung. und sicher habe ich es ROTBUCH auch angeboten – es war ja naiverweise der einzige verlag, dem ich das manuskript angeboten habe, was ich heute niemals mehr machen würde, einem einzigen verlag ein manuskript anbieten –, weil ich natürlich wußte: hier habe ich ein publikum, das keine großen schwierigkeiten mehr hat, 1979, ne?, darüber überhaupt zu sprechen oder sich damit auseinanderzusetzen.

und das war eine gewisse sicherheit, die, glaub ich, das buch auch ausstrahlt. trotz allen werbens um toleranz oder, was weiß ich, gegen diskriminierung, ist doch die position des autors: „kuckt her!“ und aber auch: „ich weiß, ihr werdet herkucken!“ da ist eine gewisse sicherheit auch drin. das bildet, wenn man freundlich ist, den abschluß der siebziger jahre, dieses buch. also schon völlig in dieser tradition drin, andererseits, hoffe ich, auch der versuch, darüber hinauszugehen. subjektiv auf jeden fall der versuch, darüber hinauszugehen, wie weit das objektiv gelungen ist, weiß ich nicht. ich hab’s neulich nochmal gelesen: es steckt schon sehr in dieser tradition drin und ist eigentlich siebziger.

SR: könnte das, was darüber hinausgeht, ein streben nach dem allgemeinen sein? es soll über das identifikatorische hinausgegangen, ein allgemeines gezeigt werden.

RMS: genau. und das hat, glaub ich, zwei ebenen, wenn ich mich selber interpretieren darf: zum einen die begriffliche ebene, die ja sehr stark ist in dem buch, also „die bourgeoisie hat ... in moskau und ...“, es sind also sehr begriffliche ebenen drin, die die handlung fast essayistisch überwuchern. und zum andern ist die literarische ebene – das war subjektiv für mich das stärkste moment –, die mit den mitteln der literatur versucht, ne überhöhung und ne verallgemeinerung zu bieten. also diese klassische fünfteilige form, das klassische instrumentarium der novelle und so.

SR: auffällig wird dieses streben nach dem allgemeinen, wo du die novellenstruktur nicht nur übernimmst, sondern ironisierst, ja parodierst. ich meine den in der klassischen novellentheorie in den mittelpunkt der novelle gestellten punkt der „unerhörten begebenheit“. sie hat bei dir alles andere als originellen oder unerhörten charakter – es sei denn aus der perspektive des b. –, sondern ist geradezu der paradigmatische umschlagpunkt fast jeder schwulen existenz in unserer gesellschaft, der punkt, den jeder durchlebt.

b. ist von allem anfang an seine devianz bekannt – schon in den ersten sätzen: „ich habe angst. bin weiblich, bin männlich, doppelt.“ –, an dem punkt aber, da ihn leif zurückweist, wird ihm die dramatik dieser andersartigkeit bewußt, die gefahr, problematik dieser liebe.

hier gibt es einen riß zwischen den realitätsebenen, nämlich zwischen derjenigen, für die der name LEIF GARRETT steht – es ist der kunstgriff des textes, einen popstar als realistische figur zu setzen, er steht für die medial vermittelte realität, wunschproduktion – und der realitätsebene des gelebten alltags des einzelnen, die nicht weniger gesellschaftlich definiert ist, aber in entscheidenden punkten im gegensatz zur ersten steht.

RMS: andererseits sagt b. oder der autor am schluß: auf nach berlin, in neue subkulturen! es ist schon auch ein bewußtsein, obwohl ich, als ich das geschrieben habe, noch nicht in berlin wohnte. es ist eigentlich am originalschauplatz entstanden auch. geschrieben allerdings in hannover, also immerhin 20 kilometer weit weg, was mir dann sehr geholfen hat. ich bin ja jeden morgen da noch zur schule gefahren. und trotzdem wußte ich schon vorher, daß dieser weg nach berlin, den ich machen würde, den ich damals schon machen wollte, auch ein gehen in so eine ersatzwelt ist. wenn ich heute hier in westberlin wohne, dann weiß ich genau, daß ich mich nicht nur im zentrum des imperialismus und daher an einem privilegierten ort befinde, als mitteleuropäisches individuum, sondern auch für schwule an einem privilegierten ort. wenn ich heute in lehrte leben müßte, weiß nicht, ob ich das könnte, dann würde ich mich wahrscheinlich irgendwann aufhängen.

SR: das kürzel b. steht vielleicht schon für berlin.

RMS: (lacht) wenn du willst.

SR: der ausweg aus dieser problematik, die ich vorhin zu schildern versucht habe, ist eben die subkultur, die, wenn auch ironisiert oder wenn auch schon ein wenig problematisiert, doch positiv besetzt ist. in der variante, also dem nächsten schritt, scheint diese positive besetzung zurückgenommen.

RMS: die lektorin vom ROTBUCH-verlag war sehr angetan von dem manuskript, wollte das unbedingt machen und ist dann im verlag nicht durchgekommen. sie war damals gerade neu, und wahrscheinlich hätte sich meine vorige lektorin, meine eigentliche lektorin, besser durchsetzen können.

wie dem auch sei. was die ROTBUCH-leute spontan und alle damals gesagt haben: „ist ja toll, wie du deine berlin-erfahrungen umsetzt!“ der witz an der variante ist, daß das material alles noch in hannover entstanden ist. was an reinen sätzen drin vorkommt, ist alles noch hannover. ich habe da zwei jahre dran geschrieben, als ich 19 und 20 war. mit 19 war ich ja noch in der schule und habe das geschrieben. und das zweite jahr habe ich nur montiert und habe diese form gefunden und habe die struktur reingebracht. letztendlich ist für mich der gegenstand der variante diese struktur, die das selber auch erfüllt und von dem es handelt. dazu brauchte ich eigentlich berlin nicht, für diese erkenntnis. das wußte ich vorher.

SR: der wille zur subkultur ist in der kleinstadtnovelle noch da, und ich würde sagen, in der variante ist er verlorengegangen oder wird er stärker problematisiert ...

RMS: ... härter, ja ...

SR: der punkt, wo sich der triviale schwulenroman von dem reflektierten unterscheidet, ist, daß in der trivialliteratur emphatisch gesagt wird: „subkultur! hier kannst du dich ausleben!“ und so weiter und so fort. und in der reflektierten literatur kann das schon nicht mehr der fall sein.

RMS: und in der trivialliteratur wird die ganze welt zur subkultur. das ist eine struktur des pornos. daß einem also der briefträger an den schwanz faßt, das, was man sich immer vorstellt.

SR: ein anderer aspekt, der damit im zusammenhang steht, ist die abwendung vom einzelnen, die hinwendung zur gruppe, zur gesellschaft, als fluchtpunkt deiner texte. im mittelpunkt der kleinstadtnovelle und der irene binz steht noch das einzelschicksal, wenn auch bereits in seiner verknüpfung mit der es umgebenden sozialen struktur. in der variante und so schön hingegen scheint diese konzentration ganz aufgegeben, zugunsten der untersuchung von gruppenstrukturen. und schließlich, wenn dieser vorblick gestattet ist, in der legende der weiteste weitwinkel: der einzelne immer im bezug zum ganzen, gesellschaftsroman, ja kosmologischer roman.

RMS: das finde ich toll, daß dir das aufgefallen ist. das ist ein wirkliches ziel von mir, gruppen zu zeigen, nicht mehr personen zu zeigen. ich glaube, daß romane, so grandios und so sicherlich in gewisser weise unerreichbar sie für mich sind wie der ULYSSES, wie DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN – das will ich nicht machen, weil mir einer zu wenig ist. ich denke, das kann ich nicht machen, sondern ich muß gruppen zeigen.

SR: aber BERLIN ALEXANDERPLATZ, den man in diesem zusammenhang nennen könnte, wäre auch schon ein versuch, diese ...

RMS: ist natürlich ein versuch. alle diese ... kuck mal, was der JOYCE macht mit seiner person, das ist ja eben och, wie hast du gesagt?, kosmo ...

SR: ... kosmologischer ....

RMS: kosmologischer roman. das ist es ja in ganz starkem maße. jeder autor versucht natürlich, über eine einzelne person hinauszugehen, das ist ja ganz klar. trotzdem glaube ich, daß ich jedenfalls diese struktur nicht mehr benutzen kann. das habe ich in der kleinstadtnovelle gemacht, weil b. eben in gewissem sinne, da müßte man lange darüber sprechen, aber eben in gewissem sinne ich ist. und in der irene binz, weil ich diese geschichte – zufällig sozusagen – gerne bearbeiten möchte und weil es ne geschichte ist, die mich – quasi zufällig – sehr interessiert. aber wenn ich das material nicht hätte, würde ich das nicht machen.

was für mich an der gruppe sehr interessant ist: ich habe ja neulich eine prüfung gemacht in ästhetik. und da tauchte auch die frage auf, was denn nun für mich persönlich der sozialistische realismus ist. das ist natürlich ne unbeantwortbare frage. es ist vielleicht gewagt, wenn ich das sage, aber eine gruppe darzustellen, im gegensatz zu einem einzelnen menschen, ist für mich auch etwas sozialistisches. zu sagen: die leute hängen zusammen. und wenn ich auch nicht 2000 leute gleichberechtigt in einem roman schildern kann, so kann ich doch versuchen, vier oder fünf leute gleichberechtigt zu schildern. und das will ich versuchen und will versuchen, herauszukriegen, wie die konstellation ist und wie die zusammenhängen.

SR: das hatte ich mir einmal klar gemacht als den versuch, nicht prototypen zu zeigen, sondern prototypische konstellationen, also einen zusammenhang.

RMS: ja. es ist auch viel schema drin. kann man sich ruhig klarmachen, habe ich auch keine angst vor, daß man sagt: „das ist ganz schematisch“. in der variante ist es ein schwuler, ein kommunist, einer, der beides ist, ein junger mann, der zwischen den beiden steht, zwischen kommunisten und schwulen, und dessen mutter. das ist eine ganz schematische sache. und die erfahrungen, die ich formuliert habe, das material, das ich gesammelt habe noch in hannover, habe ich im grunde schematisch einer dieser vier figuren zugeordnet. ich habe versucht zu zeigen, was in diesen figuren, also mit allen vieren zusammen – das erste kapitel handelt von allen vieren und noch ’n paar anderen –, was da passiert. ich habe mich also schematisch aufgeteilt.

SR: wie hängt der soziale mikrokosmos der variante zusammen mit der gesamtgesellschaft?

RMS: die entdeckung der variante ist eigentlich, daß ich das selber auch mache. vorher, in der kleinstadtnovelle, ist es, auch wenn ich es jetzt übertrieben darstelle, eigentlich der unschuldige b., der in eine feindliche umwelt kommt und sagt: „ihr diskriminiert mich, für was? habt mich doch lieb.“ und die entdeckung der variante ist – und die geschah durch das material, die hatte ich nicht als satz vorher –, daß ich das selber auch mitreproduziere. solche strukturen ...

SR: ... auch auf der sprachlichen ebene ...

RMS: ... auf der sprachlichen ebene, klar, aber auch in dieser konstellation. ich bin wie immer, in allen meinen texten, bin ich jede der beteiligten personen. ich habe mich aufgeteilt in diese vier personen. und gleichzeitig hat das eine realitätsebene, daß es natürlich diese verschiedenen personen durchaus gibt. und diese struktur ist eine große struktur. es gibt keinen unterschied zwischen der kleinen und der großen struktur, das ist die behauptung der variante.

SR: also auch im klassischen ich selber? das leben in der gruppe, oder sagen wir: im sozialismus, ganz kühn, würde sich im ich dadurch ausdrücken, daß ein emanzipiertes verhältnis seiner verschiedenen teile zustandekommt?

RMS: ja.

SR: diese gruppenstruktur spiegelt sich im stil. rückblickend kann man sagen, daß die variante geradezu ein experimentierfeld für deine stilformen gewesen ist: alle topoi und prinzipien deiner texte tauchen hier bereits auf, in der dichtesten dichte. sind deine späteren texte nur noch varianten der variante?

RMS: die variante war so ein endpunkt, daß ich ein jahr lang, vom rein literarischen her, nichts geschrieben habe. das ist aber etwas, das ich bei jedem text habe, daß ich denke, jetzt kann nichts mehr kommen. das ist vielleicht normal, weiß ich nicht, hängt vielleicht tatsächlich mit dem schreibprozeß zusammen. aber bei der variante war’s extrem: ich hatte überhaupt keine sprache mehr. es war sprachlich so an einen endpunkt geführt, daß ich wirklich nicht mehr wußte, wie ich einen satz schreiben sollte. ich kann mich aber erinnern, daß mich das in diesem jahr nicht beunruhigt hat. ich dachte, ach das kommt wieder. aber, das war schon sehr merkwürdig. und dann hatte ich kontakt mit nem fernsehmenschen, und der wollte, daß ich ein drehbuch schreibe, und das habe ich auch versucht. das war aber auch wahnsinnig verkürzt. das gibt es noch, diesen versuch, ein drehbuch zu schreiben. das hat der dann abgelehnt, weil ihm das viel zu avantgardistisch war, nehme ich an. und dann habe ich aus dem stoff dieses drehbuchs im juni 82 innerhalb von zehn tagen eine erzählung gemacht, eben so schön.

SR: aber so schön ist, vom stilistischen her, mhm, das klingt jetzt etwas abwertend, ärmer. es ist der versuch, einen stil der variante durch reduktion konzentriert durchzuführen.

RMS: ich hatte nach der variante das gefühl, ich selber würde sie gar nicht gerne lesen. es war die wahrheit, aber es war eine wahrheit, die mir eigentlich nicht gefiel. ich dachte, man kann nach der variante nur noch selbstmord machen, zumindest nach den ersten vier kapiteln. das fünfte kapitel versucht dann, wiederum ganz auf der strukturalen basis, gar nicht so sehr auf der konkret-politischen ebene, sondern wirklich auf der strukturebene zu zeigen, daß man aus dieser struktur wieder rauskann. aber trotzdem halte ich die variante immer noch für meine depressivste sache. das war von der emotion her wirklich das schrecklichste auch, was ich da gemacht habe.

SR: – beim schreiben, im text selbst ja wohl nicht ...

RMS: ja? na, umso besser. sag mal!

SR: wir können ja mal auf den titel kommen: die heftige variante des lockerseins. ein festspiel. die idee des festes wurde mir klar. aber wie könnte man das lockersein fassen? einen aspekt könnte ich mir vorstellen: die lockerheit der montage. es ist zwar eine strenge innerhalb der einzelnen textabschnitte, aber eine lockerheit im zusammenfügen, in der komposition. daß man also ganz unterschiedliche stilformen zusammenbringt. aber, ich glaube, das „lockersein“ ist auch inhaltlich gemeint. wie würdest du das sehen?

RMS: es ist ein ironischer titel, es ist ganz inhaltlich erstmal gemeint. alle personen wollen locker sein und, wenn sie es sind, auf ganz verquere art und weise. „locker“ ist ja auch ein wort unserer subkultur – „sei ganz locker. da muß man ganz locker da rangehen. unheimlich locker“ – und die leute, die erzählen, daß sie ganz locker sind, sind meistens am verkrampftesten. davon handelt es auch. wie bin ich, was ich bin. das ist natürlich auch das thema, das ist bei jedem der vier anders. aber wie ich bin, das vereint sie doch auf eine gewisse weise.

es ist nicht locker. ich empfinde die variante als nicht locker, sondern als angestrengt und selbstquälerisch. sie ist mir viel zu wenig lustig, z.b. mein höchstes wär immer, was lustiges zu schreiben. ich denke, lustig ist sie nur, wenn man sich ganz auf sie einläßt. innen drin sind so ein paar jokes.

SR: ich glaube, es sind geradezu running gags drin!

RMS: (lacht) na, wenn du die bemerkt hast!

SR: ganz auffällig fand ich z.b. kalauer und verballhornungen. das sind stilprinzipien, keine peripheren erscheinungen.

RMS: stimmt.

SR: das war für dich eher ein versuch, das zu akademische aufzuheben?

RMS: „akademisch“ – weiß ich nicht. nee, das selbstquälerische, das depressive. (...)

SR: du hast eben gesagt, die kleinstadtnovelle hat einen fünfteiligen aufbau, die variante hat einen fünfteiligen aufbau, was an das drama erinnert. die verwendung des chores erinnert an die griechische tragödie. du verwendest sehr häufig kanonisierte formen, also eben die novelle, bei den gedichten das sonett, das haiku. können diese verbrauchten stilformen, ebendadurch, daß sie so bestimmt und überbestimmt sind, als formalismen eingesetzt werden, gegen deren strenge sich dann der text behaupten muß? zunächst mal eine sehr strenge struktur, und der text muß sich dagegen wehren, muß sie wieder aufheben.

RMS: das war aber immer schon so. das ist, glaub ich, nichts neues, das ist keine erfindung der moderne. das geht bis in mikrostrukturen hinein. PETER HACKS hat das beschrieben, daß man in einem fünfhebigen jambus immer damit spielt, ihn auch zu verletzen, weil ja die natürliche betonung kaum wirklich mit einem fünfhebigen jambus völlig identisch ist. und wenn, dann klappert es eben, man hört’s klappern. es ist immer ein gegenarbeiten auch gegen solche kleinen strukturen.

SR: gut, aber man könnte sich auch eine ganz mathematische struktur vorstellen, die eben noch nicht kanonisiert ist. man könnte montageprinzipien oder ganz moderne stilprinzipien verwenden. aber du nimmst formen, die schon bekannt sind.

RMS: du darfst das gewicht nicht so sehr auf „kanonisiert“ und „bekannt“ legen, sondern es sind alte strukturen, die man immer noch kennt. warum kennt man die noch? weil sie funktionieren. sie funktionieren einfach gut. es ist eine entdeckung beim arbeiten: eine fünfteilige form, die funktioniert. das ist wie’n krimi. zehn millionen fliegen können nicht irren, und wenn sich’s um ein stück scheiße handelt. es muß doch irgendwas dran sein. und das ist bei diesen fünfteiligen formen so deutlich. ich habe diese form immer verletzt. also bei der kleinstadtnovelle, beim zweiten und dritten teil, da ist es sehr heikel, ob es da noch stimmt. und das geht weiter über die variante, so schön, irene binz, die schönheit und zur legende. das sind alles fünfteilige formen und immer ist sie irgendwie auch verletzt. wie bei SHAKESPEARE, der trampelt ja auf dieser fünfteiligen form wahnsinnig rum. aber es ist immer als muster im kopf und deshalb funktioniert es. ich glaube, die geringschätzung von alten formen, die sich in der spätbürgerlichen literatur breitmacht, das ist ein wirkliches mißverständnis und ein wirklicher verlust. ein sonett leistet etwas bestimmtes. nicht jeder gegenstand ist einem sonett angemessen, aber daß es ein sonett überhaupt gibt, bedeutet, daß es etwas bestimmtes kann, und das kann man ausnutzen. das kann man wieder kaputtmachen und man kann, wie gesagt, darauf herumtrampeln. aber man sollte zumindest wissen, worum es sich handelt.

als ich meiner freundin SABINE erzählt habe, daß ich eine versfassung der irene binz herstelle, sagte sie: „aber ist das nicht langweilig, wenn man über 100 seiten immer die gleichen fünfhebigen jamben liest?“ gut, man kann jetzt sagen, das ist eine naive person, die in ihrem leben noch nicht soviele fünffüßige jamben gelesen hat. aber, da sollte man doch sehr aufpassen mit solchen urteilen, daß man da nicht große errungenschaften der menschlichen kultur, nicht wahr?, hingibt für einen pup.

(...)

SR: in der variante schon sehr ausgeprägt: der einsatz des hochdeutschen slangs, was in allen deinen texten durchgängig da ist. da würde ich sagen, es ist nicht nur ein versuch, die natürliche sprache zu spiegeln, sondern sie im text als verfremdung zu nutzen, besonders stark in der abweichung von der ordentlichen und offiziellen satzordnung. da wird es ja auch schwierig teilweise, es zu lesen, weil die sätze immer umgestellt sind.

RMS: ich glaube, wenn ich mich recht erinnere – es ist schwierig, weil ich habe die variante abgeschlossen vor mittlerweile sechs jahren, ich habe die von 79 bis 81 geschrieben –, wenn ich mich recht erinnere, dann habe ich das damals nicht als eine verfremdung, sondern im gegenteil als eine annäherung empfunden, als annäherung an das, wie wirklich gesprochen wird. ich weiß, daß ich damals den großen ehrgeiz hatte, so zu schreiben, wie man spricht, was ich heute vielleicht ein bißchen naiv finde. aber das war doch ein großes erlebnis für mich: ich hatte plötzlich bei allem, was ich gelesen habe, das gefühl, das ist nicht das, wie wirklich gesprochen wird und das ist nicht wahr.

SR: hattest du das streben nach realismus?

RMS: ja, das streben nach realität, damals sehr stark. ich wußte, daß weder meine mutter noch ich, noch meine klassenkameraden, noch die leute, mit denen ich täglich zusammen war, so sprachen, wie in den büchern geschrieben wurde. und das habe ich als ganz quälend empfunden, das weiß ich noch. das hat dazu geführt, daß die variante jetzt wirkt wie ein manierismus, als wenn ich das wie so etwas barockes aufgebaut habe. das erschien mir aber damals wie etwas ganz einfaches und unmittelbares.

SR: ich würde die irene binz z.b. werten als ein ganz bewußtes einsetzen des verfremdenden, nicht des natürlichen elements, sondern des verfremdenden ...

RMS: die ist aber auch ein paar jahre später.

SR: könnte man sagen, daß da das streben nach authentizität zweitrangig wird und daß da mehr die klassische idee der verfremdung, der deformation betont wird?

RMS: ich glaube, es ist folgender prozeß doppelpunkt ein ungenügen an der schriftsprache in der variante, der wille zum hingehen zur gesprochenen sprache ...

SR: ... als opposition auch zum offiziellen deutsch, auch politisch ...?

RMS: ... einfach der wille zur wahrheit. einfach das ungenügen daran, daß nirgends steht, wie man spricht. so ein ganz naives ungenügen. und das hatte ich in der irene binz – die arbeit an der irene binz ist auch noch nicht abgeschlossen und zieht sich ja seit 1980 durch alles andere hindurch. 1980 ist das tonbandgespräch entstanden, 1983 die prosafassung, also schon dafür habe ich drei jahre gebraucht, es so zu packen. daß ich das erstmal geordnet habe als material und es einmal aufgeschrieben habe in einer sehr unmittelbaren fassung, in der von der interviewpartnerin kein wort verändert wurde. ein jahr später eine versfassung, in blankversen, das war dann also 1984. 1985 nochmalige überarbeitung der versfassung, und es wird sicherlich eine nochmalige überarbeitung dieser versfassung geben. und das ist ein sprachlicher prozeß. das ist nicht nur ein prozeß des umgehens mit dem stoff – sicher auch sehr stark, daß ich immer wieder neu zugang finde zu diesem stoff und immer mehr dazu komme, diesen stoff zu beherrschen, was mir sehr schwerfällt. und das ist der gleiche prozeß wie der sprachliche prozeß, daß ich immer mehr dazu komme, die sprache bewußt hochzutreiben. also eine schönheit der sprache zu geben, eine geschlossenheit, die sie im original nicht hat. und das heißt, auch der person eine schönheit und geschlossenheit zu geben, die sie im original nicht hat.

SR: aber gerade in der ausnutzung der gesprochenen sprache! nicht in einer überführung der gesprochenen in eine schriftsprache, sondern gerade in der offensiven ausnutzung dieser gesprochenen sprache.

RMS: laß mich ein beispiel sagen, was ich immer dafür anführe, was in der irene binz ein blankvers leistet. die zeile: „er hat gesagt, er liebt mich unwahrscheinlich“. diesen satz hat die interviewpartnerin wirklich gesprochen und als ich ihn gehört habe, habe ich natürlich nicht wahrgenommen, daß das ein fünffüßiger jambus ist, aber es ist ein fünffüßiger jambus. und wenn man das als struktur nimmt: „er hat gesagt, er liebt mich unwahrscheinlich“, in dem moment, wo das in einem zusammenhang von lauter fünffüßigen jamben steht, ist das für mich eine ganz tolle, große zeile. „er hat gesagt, er liebt mich unwahrscheinlich“, das ist für mich große kunst eigentlich, die aus dem mund von jemandem kommt, der selber keine kunst macht. und das ist eine höhe, die ich erreichen will, in jeder zeile...

SR: ... eine überhöhung auch ...

RMS: es ist auch eine überhöhung, obwohl gar keine überhöhung stattfindet, oder nur sehr indirekt. ich bleibe schon wirklich recht nah dran an der originalen bewußtseinsebene der frau, die ich da porträtiere, im indirekten sinn. aber ich möchte es auf eine höhe treiben.

SR: die betonung des materials oder der materialität, sagen wir des originaltons oder der gesprochenen sprache, steht einer linearen, kohärenten reflexion des autors entgegen oder sie ersetzt sie. diese reflexion des autors ist, mir scheint es so, manchmal ängstlich umgangen. das ist ein positivistischer stil: die zerlegung der personen in handlungen und handelnde aussagen. der autor ist nur noch der anordner, der konstrukteur des materials.

RMS: du beschreibst jetzt etwas, das sich durch alle manuskripte zieht?

SR: ich glaube schon. gelegentlich scheint es, als ob du angst hast, durch reflexion das material zu verletzen.

RMS: das ist eine form der selbstdisziplinierung. wenn man das ursprüngliche material der variante ankucken würde, würde man sehen, daß diese kurzen geschichten ursprünglich doppelt oder dreimal so lang waren und das, was weggelassen wurde, sind die erklärungen. ich habe einen wahnsinnigen hang zum traktat und zwar durchgehend, in all meinem material.

SR: zum traktat?

RMS: das kann man glaub ich immer noch in der literarischen struktur sehen, bei den gedichten kann man das sehen, aber auch bei den geschichten der variante: es fängt an mit der erklärung des geschehens. ich glaube, viele meiner geschichten oder partikel oder gedichte fangen an mit einer überschrift, die eine vorab-erklärung ist. das beobachte ich auch an mir selber. ich sage mir erstmal: was will ich sagen? und dann liefere ich die erklärung dazu. ich bin eigentlich ein sehr missionarischer geist und will immer leute überzeugen oder zu etwas bringen und merke aber, daß das der literatur entgegensteht und daß das auch dem material entgegensteht. daß man tatsächlich, wie du sagst, das finde ich ganz richtig, daß man personen und figuren auch verletzt dadurch.

z.b., ich habe jetzt noch einmal wiedergelesen von ELFRIEDE JELINEK: OH WILDNIS, OH SCHUTZ VOR IHR und da ist der mittelteil satirisch oder unmittelbar politisch, und den finde ich den schwächsten. da richtet sie sich wirklich gegen etwas und will etwas erreichen mit dem text und man erkennt die intention. das ist mir dann zu wenig, da bleibt sie auch hinter ihren eigenen literarischen grandiosen sachen zurück.

SR: das missionarische drückt sich oft in diesen reflexiven strukturen aus, darin, daß zunächst eine handlung gebracht wird, dann schaltet sich der autor ein und sagt: „so und so ist es.“ bei dir hat man den eindruck, daß zwar dieses so-und-so-ist-es schon da ist, daß es sich aber nicht mehr offen ausspricht, also daß es nicht mehr auftaucht.

RMS: ja, wie schön. finde ich gut.

SR: das hat auch etwas problematisches. können wir mal darauf kommen, was in der variante das „gloriose dogma“ genannt wird – was sich in dem satz ausdrückt, aus der variante, daß die dicken ideen in 39 blauen bänden und mehr schon da seien und endgültig da seien ...

RMS: ... großes problem meines schreibens ...

SR: ...das wird besonders deutlich in deinen theoretischen texten. – was sich da ausdrückt in einer apodiktik.

RMS: die apodiktik ist allerdings auch die gute ddr-schulung, das ist einfach auch ein stil.

SR: es hat eine ungeheure rasanz und deshalb mag ich deine theoretischen texte ganz besonders. was mich daran stört, ist eben, daß es so scheint, als ob alles schon klar ist und als ob es nur noch umgesetzt werden müßte. kann man darin deinen politischen impetus ...

RMS: ... ja, sehr stark. das ist etwas, was mich auch sehr mutlos macht und wo ich wirklich denke, daß das unsere zeit, also die westliche zeit, ausmacht, den spätkapitalismus, daß wirklich ja alles gesagt ist. wenn ich BRECHT lese – sicher gibt es stellen bei BRECHT, wo ich sage, das bin einfach nicht ich, weil ich halt nicht BERTOLT BRECHT bin –, aber, (egal,) wo ich aufschlage: das ist einfach die wahrheit über den kapitalismus, und man ist eigentlich ratlos, wenn man das liest, weil man sagt: mein gott, das ist fünfzig jahre her, und das stimmt immer noch! was soll man dazu noch sagen? man kann es den leuten um die ohren hauen. aber, es ist eigentlich alles gesagt. nicht? wie CHRISTA WOLF sagt: ich wüßte nicht, wo ich in der bürgerlichen gesellschaft schreiben sollte. es ist alles gesagt, es kann nur noch wiederholt werden. das ist ein sehr starkes gefühl von mir.

SR: ist das auch der unterschied zwischen der brd- und der ddr-literatur, daß eben dieses wissen über ziele und ideale in der ddr-literatur intakt ist, in der brd­-literatur schon lange nicht mehr oder noch nie intakt war?

RMS: mit den zielen und idealen, das ist für mich ein anderer komplex, ich würde vielleicht sagen, in der ddr besteht überhaupt die möglichkeit, sich zu fragen: „wohin will ich?“ und in der brd wissen eigentlich alle, wohin sie wollen, nämlich weg. und über dieses „weg!“, wohin das nun ist, darüber kann man sich natürlich ein leben lang unterhalten. im grunde wissen alle, es muß alles ganz anders werden.

eigentlich wissen alle bemerkenswerten personen dieses landes, von RAINALD GOETZ bis ELFRIEDE JELINEK, daß das nur durch ne revolution passieren kann, da herrscht im grunde eine einigkeit darüber. die frage ist: wie kann man die denn nun machen? und: wann kommt denn die nun endlich? und: wie können wir selber der sinnvollste teil der vorbereitung der revolution sein?, das sind große themen, die ich nicht verkleinern will und wo man viel drüber schreiben kann und was natürlich einfach der stoff unseres lebens ist. aber, eigentlich ist das ja was ganz primitives, meine güte, wir müssen nur eine revolution machen, dann geht es auch weiter. ich finde das so einfach und so, so ...

SR: ... das scheint mir paradox zu sein. das ist genau das, was mich an deinen texten stört: daß ich die revolution niemals begreifen könnte als etwas, das schon von vornherein feststeht und nur noch exekutiert werden muß. für mich ist ein widerspruch da zwischen diesen ideen, die irgendwann festgeschrieben worden sind, und der revolution, die sich für mich eher als eine bewegung ausdrückt, eine bewegung aber auch der ideen, eine bewegung auch des bewußtseins. nicht eine ausführung von ideen, sondern ein in-bewegung-bringen von ideen.

RMS: ja. ich bin grundsätzlich mit dir einer meinung, so, wie ich auch theoretisch oder intellektuell sagen würde, daß z.b. dieser satz von CHRISTA WOLF falsch ist, daß man über die bürgerliche gesellschaft nichts mehr sagen kann. die welt geht weiter, man kann über jedes leben etwas sagen, über jede person. ich bin ich, und deshalb kann ich auch literatur machen. nur, das gefühl ist ein anderes. vom gefühl her kann ich nur sagen, CHRISTA WOLF drückt mit diesem satz etwas aus, das ich leider jeden tag erlebe. auch wenn ich intellektuell sage, dieser satz muß falsch sein, denn die welt geht ja weiter, die ist ja nicht seit BRECHT gleich geblieben, trotzdem habe ich ein gegenteiliges gefühl. und dieses gefühl bestimmt meine literatur sehr stark.

SR: das ist etwas lähmend, oder? ein dogma ist immer lähmend.

RMS: der weise ist immer dogmatiker. (lacht) der satz ist nicht von mir, den zitiert MARX in seiner doktorarbeit über EPIKUR.

SR: ich würde widersprechen, aber darüber könnten wir uns ewig unterhalten.

einen gegenpol zu diesem politischen kern deiner literatur und auch deiner person, bildet etwas, das ich gerne nennen würde: die kategorie der möglichkeit – die ja (auch) eine genuin politische kategorie ist. zitat variante: „wenn ich ehrlich bin: ich liege hier. wenn ich realistisch bin: ich könnte aufstehen. um politisch zu werden: ich werde es.“ besonders interessant finde ich diese kategorie der möglichkeit, wenn sie eine kategorie der verbesserung wird oder sie offeriert. ich meine das GOETHE-zitat am schluß von inke kerman: „wenn wir die menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ das hat mich gerade am ende dieses textes über inke kerman irritiert, denn tritt diese kategorie der möglichkeit nicht in den gegensatz zu dieser welt des alltäglichen, in der du deine figuren oft agieren läßt, zu dieser (lacht) wucht des faktischen, die deine texte oft vermitteln? gerade bei inke kerman stellt sich das so dar. es spielt sich das und das ab, die möglichkeit schimmert zwar immer wieder durch, aber sie ist doch ein deutlicher kontrast.

RMS: sicher, das ist der größte kontrast, den man sich denken kann. die petra ist im grunde, obwohl sie vor inke kerman entstanden ist, eine weiterführung des themas. sie fragt nämlich: wenn sich jetzt so eine person, die völlig in ihrem alltag gefangen ist, etwas wünschen könnte, was würde sie sich eigentlich wünschen? sie würde sich nämlich lauter falsche sachen wünschen – also „falsche sachen“, das ist jetzt sehr draufgesetzt als begriff. aber eben, sie würde sich lauter sachen wünschen und würde nicht glücklicher werden.

SR: da hätten wir wieder diese wunschproduktion, von der kleinstadtnovelle her schon. nun, du scheinst eine angst davor zu haben, den text zu einer anregung zu möglichem zu verwenden?

RMS: das versuche ich in der legende das erste mal. das sind bei mir die götter. das thema der legende ist: wie wird das kleine zum großen? d.h., wie wird das reale zum idealen oder zum möglichen? wie kann man aus diesem kreislauf nicht nur des täglichen lebens, sondern der welt, also aus dem kreislauf, den die welt auch im großen maßstab macht, wie kann man da raus? das ist natürlich sehr allgemein formuliert: aber, um da rauszukönnen, braucht es eben götter ...

SR: ... (lacht) die man selber schafft?

RMS: – natürlich, die ich selber schaffe. aber, die etwas leider sehr von außen kommendes sind. ich bin, glaub ich, viel pessimistischer, als es meine politische einstellung zuläßt. meine ganze literatur ist eigentlich ein arbeiten gegen meinen eigenen pessimismus.

SR: wenn man etwas an deinen texten kritisieren kann, dann, daß sie einen etwas in trübsinn zurücklassen gelegentlich. vielleicht auch durch die sprachliche reduktion, die diesen motiven, die aus dem alltäglichen stammen, entspricht. eine gewisse monotonie ...

RMS: in der inke kerman sicherlich auch ein endpunkt. primitiver kann man ja nicht mehr werden in der sprache. mehr an stillstand und weniger an handlung gibt es ja auch kaum mehr. ich habe mir überlegt bei dieser figur – die hat mich lange beschäftigt im rahmen der legende, die wird auch in der legende einen weiten raum einnehmen –: ein mensch, der wirklich morgens zur arbeit geht, nachmittags von der arbeit kommt, abendbrot ißt, fernsehen guckt und morgens wieder zur arbeit geht. also wirklich ein stillstand und zwar über jahre und jahrzehnte. und ich kenne solche leute. ich bin unter solchen leuten aufgewachsen.

SR: aber natürlich. unsere ganze gesellschaft besteht aus solchen leuten.

RMS: ja.

SR: in der variante sind starke musikalische elemente enthalten. du hast versucht, diese musikalität auszunutzen in einer praktischen zusammenarbeit mit MICHAEL HIRSCH, der das letzte kapitel vertont hat. du hast auch mit grafikern zusammengearbeitet. neuerdings versuchst du, den text so schön in eine comicfassung zu bringen, in der zusammenarbeit mit einem maler. was bedeutet diese zusammenarbeit mit den anderen künsten für dich?

RMS: ich hasse illustrierte bücher und ich kann mit vertonten texten nichts anfangen.

leider hat hans, wie ich MICHAEL HIRSCH nenne, nicht das ganze vertont. er wollte das ganze – und wahrscheinlich würde er, wenn er jetzt hier wäre, sagen, er will immer noch – das ganze vertonen. aber, er hat’s nun seit jahren vor. weil ihm das am wenigsten gefällt, hat er mit dem fünften kapitel angefangen und wollte es als erstes vertonen, um es hinter sich zu haben. er hat ein konzept für das zweite kapitel und eine idee für das ganze. das ganze hat also bei ihm schon eine bestimmte dramatische handlung, die er sich dazu hat einfallen lassen. es sollte eine art oper werden. wobei er ja behauptet, man kann heute keine oper mehr schreiben, weshalb er auch mein libretto nicht vertonen möchte, leider.

er ist für mich in dem moment, wo er vertont, in welcher form auch immer – er hat das ja auf sehr merkwürdige art und weise und auf ganz verschiedene art und weise getan –, ist er einfach ein leser. und ULIANE (BORCHERT), wenn sie grafiken dazu macht, ist ne leserin, die den text damit interpretiert und THOMAS SCHULZ, wenn er sich fragt, was für situationen er daran witzig und interessant findet, daß er sie umsetzen kann in bilder, ist ein leser. unter einem anderen aspekt interessiert es mich nicht.

ich hoffe inständig, daß all diese texte ohne ton, bild oder was auch immer dazu existieren können. für mich ist das perfekte medium ein blatt papier mit einem gedicht drauf.

SR: gibt es rückwirkungen? ich habe angedeutet, daß eine musikalische struktur in der variante schon da ist. hat dich MICHAEL HIRSCHs arbeit angeregt, könntest du aus solchen musikalischen techniken auch anregung für texte beziehen?

RMS: nein. verblüffend war für mich, daß hans den text gut verstanden hat. das ist für mich immer wieder ein erlebnis, auch wenn du jetzt meine texte interpretierst. ich bin verblüfft tatsächlich, hocherfreut, aber auch wirklich verblüfft, daß man die texte versteht. (lacht) daß du sachen sagst, wo ich denk, ja, das stimmt, das steht da wirklich und das wollte ich auch, daß man das denkt. und das finde ich ein ganz tolles erlebnis, das erlebnis, leser zu haben. das hat man nicht so oft. das hat man z.b. kaum auf lesungen. ich setze mich vorne hin, ich hab das ja nun oft genug gemacht, und lese das vor. oft hat man das gefühl, das kommt überhaupt nicht an bei den leuten. die sagen irgendein dummes zeug hinterher und fragen einen so ganz biographische sachen – da antwortet man dann ganz gern, das ist so ein star-gefühl. aber man hat nicht das gefühl, daß mit dem text was passiert. das ist sehr selten. das habe ich, wenn der THOMAS SCHULZ kommt und sagt: „guck mal, da hab ich das und das zu gemacht“ und ich sag: „jawoll, das stimmt, das ist da wirklich drin“, und das ist ein erlebnis, einfach daß ne rezeption passiert.

SR: oft wird behauptet, eine möglichkeit, die literatur zu öffnen, sei es, sie auf andere künste hin zu öffnen. diese chance war für dich nicht so interessant?

RMS: doch, aber nie in einer konkreten zusammenarbeit mit jemandem, wo ich das zurückführen könnte auf bestimmte erfahrungen mit anderen künsten. mir fallen zwei sachen ein. die MARLIES JANZ, die bei ROTBUCH meine lektorin war, hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß ein buch, das sie noch lektoriert hat, das dann aber nicht bei ROTBUCH erschienen ist, von BIRGIT PAUSCH, eine sammlung von gemäldebeschreibungen ist. ich hatte das selber nicht gemerkt. ich bin übrigens als leser ziemlich doof. auch als filmekucker. es gibt manchmal filme – WETHERBY war so ein beispiel – die viel mit rückblenden handeln, und ich habe die hälfte des films nicht verstanden, daß die hälfte der szenen rückblenden sind.

ich bin als leser ziemlich schwer von kapee, obwohl ich selber ja ziemlich komplizierte sachen auch manchmal mache mit vor- und rückblenden und anderen literarischen techniken, wo man sicher langsam lesen muß. aber ich selber bin auch ein ungeduldiger leser.

wie dem sei. eine folge von gemäldebeschreibungen z.b. würde mich interessieren. ich hab mal ein buch gelesen, wo gemälde aus der zeit heraus erklärt wurden. geschichtliche erklärung von hintergründen auf gemälden. das sieht dann so aus, daß gesagt wird: „links im hintergrund sehen wir eine göttin und die hat einen bestimmten hut auf und dieser hut bedeutet das und das.“ daß man solche art von beschreibungen auch nehmen könnte für ganze szenen in der legende. das habe ich mir überlegt und das behalte ich mir in der rückhand als reale möglichkeit, zu erzählen, eine form zu finden zu erzählen. aber das hat dann nur sehr vermittelt wirklich mit bildender kunst dann zu tun, sondern ist eigentlich wieder ein literarischer trick.

SR: das meinte ich ja: literarisierung literaturfremder techniken.

RMS: das ja. das sieht man ja in so schön sicher am deutlichsten. wo sieht man denn das noch bei mir?

SR: in der variante.

RMS: da heißt es ja auch einmal wörtlich „kameraschwenk“, in der variante.

SR: du hast eben schon dein konsumverhalten angesprochen. du liest sehr viel. in gesprächen ist bei mir der eindruck entstanden, daß du ein allesleser bist. GERTRUDE STEIN hat sich selber auch so beschrieben. sie sagte, sie lese alles. du liest besonders die schlechte literatur. was ist das reizvolle daran?

RMS: das material. z.b. ist einer der autoren, die ich in unserem jahrhundert in der deutschsprachigen literatur am meisten schätze, HEINRICH MANN. und ich lese sehr, sehr selten HEINRICH MANN. das ist, wenn ich als autor lese, viel zuviel stil. das ist ein stil, den ich bewundere, ich bewundere die machart, ich bewundere, wie er komplizierteste themen in fabel bringt, in figuren bringt, ich bewundere, wie er diese figuren behandelt, ich bewundere, wie er eine kommunistin beschreibt, ich bewundere alles mögliche. aber als autor kann ich es überhaupt nicht gebrauchen – es ist viel zu eigenständig. ich kann an JOYCE nachlesen, was ein autor alles machen kann, aber ich kann es ja niemals verwenden, denn es ist ja JOYCE.

wenn ich aber was triviales lese, z.b. ein buch über einen flugzeugabsturz, wo die leute in den anden zwei wochen überleben müssen, in kälte, und sich gegenseitig auffressen. das ist ja so grauenhaft schlecht geschrieben, zwischendurch schaudert’s mich vor gruseln und lache ich. aber da weiß ich, das ist ein potentieller opernstoff und dieses buch behalte ich mir sicher in meinem regal, weil es so schlecht ist.

SR: das heißt, die miese literatur muß weitergedichtet werden.

RMS: ja, sie kann benutzt werden.

SR: sie bietet noch möglichkeiten. sie kann weitergedacht werden.

RMS: meine ganze oper ist so entstanden. seitdem habe ich das bewußt, dieses verhältnis, das hatte ich vorher schon unbewußt, seitdem weiß ich, daß das wirklich geht. die schönheit ist ja entstanden nach einer fünfseiten-erzählung von ROBERT BLOCH, der die vorlage für PSYCHO von HITCHCOCK geschrieben hat. die hab ich entdeckt, da hab ich so ein heft gekauft im antiquariat für 50 pfennig mit 20 solcher erzählungen, so als fernsehersatz. da habe ich diese erzählung gelesen, die ein keim dessen enthält, was das libretto jetzt hat, wirklich ein motiv nur, und habe gewußt: „das ist eine oper!“ und habe dann diese oper, die ich gesehen habe, geschrieben. diese geschichte hat wahrscheinlich eine auflage von mehreren hunderttausend und niemand hat diese oper gesehen in dieser geschichte. aber ich habe die oper gesehen und habe sie dann geschrieben.

das ist übrigens ne interessante sache, die ich oft überlege. wenn ich z.b. einen zeitungsausschnitt nehme und ihn übernehme in einen literarischen text. der zeitungsausschnitt hat die zehnfache oder hundertfache auflage des literarischen textes. trotzdem ist der literarische text die form, in der die zeitungsmeldung überlebt. die zeitungsmeldung würde ja am nächsten tag verschwunden sein. der literarische text, obwohl er ein viel geheimerer ort ist, ist der ort, wo das wirkliche geschehen stattfindet. das ist auch ne entschuldigung für mich selbst, für meinen größenwahn.

SR: wie wird es transformiert? wird angestrebt, dieses triviale, dieses material der massenkultur in eine klassische form zu bringen, womit ein anderer autor dann wieder nichts anfangen könnte, weil es zu abgeschlossen ist? oder versuchst du raum zu lassen, damit der leser selber die fäden weiter verknüpfen kann?

RMS: dann aber auf ne andere art, als ich es als autor tue. ich habe jetzt als thema in der prüfung gehabt: WALLENSTEIN und hab mir dann den GOLO MANN gekauft, ein bißchen mit dem hintergedanken, daß es so ein toller stoff ist. aber das ist wirklich ein problem, du kannst den WALLENSTEIN nicht nochmal machen. man kann nicht noch ein WALLENSTEIN-drama schreiben, das geht nicht. das ist peinlich ... das wäre ja nicht so schlimm – peinlich, davor habe ich nicht so ne angst –, aber es ist wirklich fertig, der stoff. WALLENSTEIN ist auf seine art so ein geniales drama, das kann man nicht anders machen. es sei denn, man würde vielleicht eine kleine novelle darüber schreiben, man würde eine ganz andere form finden. das ist natürlich auch was, was ich jetzt mache in der legende. ich kopiere fünf SHAKESPEARE-stücke, das geht überhaupt nur, weil ich das in prosa mache, als stück könnte man das nicht nochmal machen. die verschiedenen genres in der literatur können sich gegenseitig auch befruchten. ich habe aus einer erzählung ein libretto gemacht und ich könnte ... ja, normalerweise nimmt man natürlich ein höheres genre. bei den SHAKESPEARE-stücken gehe ich eigentlich einen schritt drunter und wende die SHAKESPEARE-stoffe auf die gegenwart an.

SR: du verwendest auch sehr viele schlagertexte, auch personen aus dem showbiz. da ist sicher ein unterhaltender aspekt dabei. es scheint mir aber auch ein schwuler gesichts­punkt ...

RMS: also, die leute glauben mir das ja immer nicht: aber, ich möchte wirklich schlagersänger werden! die denken, ich mache witze. aber ich meine das vollkommen ernst. ich würde es liiiie-ben, vor einer kamera zu stehen und dumme lieder zu trällern. letztendlich wäre ich wahrscheinlich ungeeignet für den beruf, weil ich eben nicht dumm genug bin. ich würde mich eben doch wehren gegen dumme texte oder würde versuchen, sie raffinierter zu machen. und möglicherweise würde es gar nicht klappen. (skandierend:) aber ich möchte es wirklich gerne tun. das ist mein hochheiliger ernst! ich schäme mich überhaupt nicht dafür, sondern ich finde es ganz richtig, daß man dieses bedürfnis hat. es ist, wie du schon sagst, ein ganz schwules bedürfnis, auf ner bühne zu stehen und bejubelt zu werden, da man sonst im leben immer die fußtritte abkriegt, sag ich jetzt mal ganz einfach, hat man natürlich solche fantasien. und das war durchaus für mich und ist immer noch ein antrieb zu schreiben. wenn das natürlich der einzige antrieb bleibt, dann kann das nicht klappen. ANDY WARHOL sagt so schön: wenn du erfolg haben möchtest, überleg dir genau, warum jemand erfolg hat; natürlich nicht, weil er erfolg haben will, sondern weil er etwas bestimmtes macht. und bei dem machen – in dem moment denkt er halt überhaupt nicht an den erfolg, sondern er will eben das machen, was er macht. klar. aber als antrieb finde ich das einen sehr schönen und liebenswerten und völlig menschlichen und richtigen antrieb: daß man bewundert werden will. und das liegt in diesem schlagersänger natürlich viel purer als bei mir.

also ich muß nun seit sieben jahren darauf warten, daß mal wieder ein richtiges buch von mir erscheint. und nun erscheint eins und das ist nun auch seit fünf jahren nicht mehr mein herzblut. und trotzdem schieße ich mir keine kugel durch den kopf, weil ich denke, ich bin so ein toller schriftsteller, da kann ich auch zehn jahre warten. das ist natürlich ne geduld, die wahrscheinlich wenige leute haben. und die man als schlagersänger nicht aufbringen kann, weil das medium nicht dafür geeignet ist.

SR: der literaturbetrieb ist nicht sehr geeignet für solche show-allüren.

RMS: ja, aber der literaturbetrieb selber ähnelt dem ziemlich! die leute jedenfalls von ROTBUCH ... die variante, die hatte ich dann angekündigt, die war schon in der internen planung drin, die nummer von dem ROTBUCH stand schon fest von der variante. aber die kannten das eben noch nicht und die wußten ja nicht, daß ich solche merkwürdigen politischen einstellungen habe. und da sagten die: „ach, das paßt ganz gut! anderthalb jahre später“, herbst 81 sollte das erscheinen, „das paßt ja dann also gut. das ist gerade der richtige rhythmus.“ also die denken da auch durchaus in kategorien des literaturbetriebes.

SR: der ganze kulturbetrieb, je ernster er sich gebärdet, hat auch so etwas von hitparade. ich glaube (bei dir) den gedanken dahinter zu spüren – das will ich auch einen spezifisch schwulen gedanken nennen –: die welt als schmierenkomödie, als billiges schauspiel, als spektakel.

RMS: das wird in der legende sehr stark sein. ich weiß nicht, ob dir das so aufgefallen ist, aber da wird ja viel handlung und überdrehtheit...

SR: ...der ausweg ist immer eine heirat.

RMS: jaja.

SR: wir sprachen über konsumverhalten. du interessierst dich für formen der massenkultur, du gehst oft ins kino. was ist für dich sonst noch in deinem alltagsleben wichtig? was nimmst du auf an kulturellen formen und inwieweit kannst du sie verwerten? was ist für die literarische arbeit wichtig? der film, auch das theatergehen?

RMS: ja, theater sehr stark. wobei ich, je anspruchsvoller das genre wird, auch als rezipient anspruchsvoller werde. d.h. schlechte schlager machen mir überhaupt nichts aus. ich höre jeden tag 100 schlechte schlager und das finde ich völlig in ordnung. ich höre zwar nur ddr-rundfunk und bin also von den allerübelsten erscheinungen doch abgeschnitten, was oft ein nachteil ist, weil ich dinge nicht kenne. die übelsten sachen kenne ich eben nicht. aber was da im ddr-rundfunk kommt, ist noch übel genug. es ist doch nicht ganz unrealistisch, dieser grad an blödheit.

aber das macht mir nichts aus. im gegenteil: wenn es mir schlecht geht, lege ich eben nicht BACH auf – das kann auch passieren, also JAUCHZET, FROHLOCKET, das leg ich durchaus auch auf, wenn’s mir schlecht geht –, aber ich leg eben auch auf und sehr viel öfter JESSICA oder HILDEGARD KNEF oder solche sachen, von denen ich intellektuell weiß, daß es wohl eher trivialliteratur ist. und wenn man texte von TINO EISBRENNER, der nun einer der großen lyriker unserer zeit ist, nicht wahr?, wenn man die aufschreibt und abschreibt von platte, dann sind sie doch schlechte gedichte. aber das macht nichts, in dem moment, wo das im radio oder auf der platte kommt, ist es also große kunst, und da bin ich nicht so anspruchsvoll.

nur, wenn ich ins theater gehe, dann stört mich jede verpatzte replik, dann stört mich jede spannungslosigkeit, dann stört mich jede blödheit des ausführenden, und da bin ich ganz anspruchsvoll. und da kann ich dann wirklich nur das DEUTSCHE THEATER ertragen. alles andere, also schon das GORKI-THEATER in berlin/ddr oder andere hauptstädtische theater genügen meinen ansprüchen schon nicht mehr. da bin ich dann sehr anspruchsvoll, je höher das genre geht.

SR: ich habe den eindruck, wenn ich den fernseher einschalte, kriege ich mehr über diese brd mit, als wenn ich in ein stück gehe.

RMS: ich glaub, das ist der unterschied zwischen material und kollegenhaltung. im DEUTSCHEN THEATER habe ich ... bei aller bescheidenheit – alle beteiligten haben ein niveau, wo ich ganz bescheiden werde –, aber ich gehe als kollege rein. ich denke: das ist eine künstlerische arbeit, sowas in der richtung in irgendeiner form mache ich auch und beurteile das als kollege. wenn ich aber fernsehen kucke, schlager höre, triviale bücher lese, tatsachenberichte – ich lese viele biographien, autobiographien von filmstars, aus der geschichte. ich fange immer mehr an, gerade in letzter zeit, geschichtliche sachen als material wahrzunehmen. ich könnte mir neuerdings, seit ein, zwei jahren, durchaus vorstellen, geschichtliche stoffe zu bearbeiten, wo ich früher niemals daran gedacht habe – also da gehe ich automatisch, ohne daß ich das sage, als jemand ran, der das als material sieht. ich nehme es nicht ernst und deshalb ist es für mich wichtig.

SR: camp.

RMS: es hat was von camp. obwohl camp zu ernst ist. camp ist ja was ungeheuer ernstes. ne camp-haltung, da wehr ich mich bei mir selber ein bißchen. natürlich, wenn ich nen grand prix kucke, ist es camp. dann aber auch deshalb, weil ich den grand prix niemals in meinem leben alleine kucken würde, sondern immer in einer gruppe von schwulen, wie ich es seit jahren mache. wir treffen uns ja immer zum grand prix, und dann ist es das wunderbarste erlebnis. alleine wär es mir wirklich zu blöd.

SR: über eine figur aus so schön, helmut, schreibst du: „er kann mit dem neuen leben, weil er es nicht ganz ernst nimmt.“ diese aufgeschlossenheit gegenüber massenkultur wäre auch eine form des überlebens?

RMS: natürlich. man muß versuchen, durch die triviale form hindurchzukucken und das material zu sehen. ein beispiel, bei richtiger kunst: ich bin mal mit URSULA PÜSCHEL, das ist eine ddr-essayistin, durch eine ausstellung hier in westberlin gegangen: WESTBERLINER KUNST, 45–85, NATIONALGALERIE. es waren alle räume voll mit westberliner kunst der letzten 40 jahre. es war also 80% abstrakt oder sehr verfremdet, sagen wir einmal, also nicht das, was man in der ddr unter realismus versteht. wir blieben stehen vor einem schwarz-weiß-ölgemälde, das aussah wie ein verwackeltes foto ...

SR: RICHTER?

RMS: ich weiß es nicht mehr. jedenfalls, es bildete ne frau ab, die so in einer tür stand und aussah wie eine sekretärin.

SR: ja, das ist (GERHARD) RICHTER.

RMS: ach. du kennst es, ja? und das gefiel mir eigentlich am besten. und wir gingen raus und da sagt sie: „na, und?“ und da hab ich gesagt: „ja, also diese sekretärin da (...), die hat mir am besten gefallen.“ da sagte sie fast vorwurfsvoll: „ja, also hat dir auch was am besten gefallen, was gegenständlich ist!“ sie dachte nun, ich fahre auf die schrägen drähte auf irgendwelchen sockeln ab, die man interpretieren kann, wie man will. und da hab ich gesagt: „nein, mir gefällt schon die sogenannte, was immer das sein mag, ‚realistische kunst’.“ dieses bild gefiel mir schon am besten. aber, was man sehen muß, ist einfach die verzweiflung dahinter, wenn jemand einen schrägen draht auf einen sockel tut und sagt: „das ist kunst.“ diese verzweiflung dahinter, die muß man sehen. und die muß man auch in einem schlager sehen.

man muß bei einem schlager sehen, daß MARIANNE ROSENBERG, wenn sie ein lied singt, eine genauso unglückliche person ist wie JOSEPH BEUYS und JOSEPH BEUYS eine genauso unglückliche person wie EDITH CLEVER. ich verabscheue die kunst von EDITH CLEVER und ich halte es für selbstmitleidigen, dekadenten mist. aber die verzweiflung dahinter, die muß man schon wahrnehmen, sonst kann man nicht darüber reden.

SR: aber in der verzweiflung, die sich bei MARIANNE ROSENBERG artikuliert, spürt man die verzweiflung der vielen. man hat eben bei MARIANNE ROSENBERG immer das gefühl, hier ist kultur der vielen. da man es als solche form rezipiert, ist eine möglichkeit da, es zu ironisieren. bei EDITH CLEVER ist so eine unausweichlichkeit. man kriegt es so hingeknallt als pure verzweiflung oder als verzweiflungs-geste, während bei MARIANNE ROSENBERG, nicht beabsichtigt, aber durch die vermittlung, eine möglichkeit der ironisierung gleich­zeitig auch da ist.

RMS: wobei sie’s witzigerweise ja selber weiß. das individuum MARIANNE ROSENBERG weiß ja durchaus, daß das, was sie produziert, camp ist. gleichzeitig ist sie es aber auch. also, sie ist es und sie weiß gleichzeitig, was dabei herauskommt. das ist das merkwürdige. das wußte ich ja nicht, bevor ich sie kennengelernt habe, aber das ist ein phänomen, das dazukommt, daß diese leute, sofern sie ein bißchen grips besitzen, was bei MARIANNE ROSENBERG durchaus der fall ist, das wissen. gleichzeitig kann man es genießen und man hat den abstand. und das ist ja das, was wir camp nennen. ich weiß noch, als ich in westberlin zu besuch war, als ich noch gar nicht hier wohnte, da war ich auf ner riesigen schwulenfete in der TU und da kam an einem höhepunkt des abends MARIANNE ROSENBERG: ICH BIN WIE DU. da gibt es also immer dieses „u-uu“, was man da singt, und alle schwulen, alle in diesem raum, ich weiß nicht, fünfhundert leute mindestens, haben das gesungen. es war wun-der-bar! das war gleichzeitig ernst, lustig, selbstironisch, alles zusammen. das war große kunst, in dem moment.

SR: in einem früheren interview, mit FRINGS und KRAUSHAAR, hast du deine affinität zur frauenliteratur betont. wo liegen die unterschiede zur männlichen – nicht gleich: männerliteratur –, kann man zumindest einen teil der homosexuellen ästhetik/literatur usw. in die nähe der frauenliteratur stellen?

RMS: ich möchte dazu ein beispiel erzählen. ich habe vor ein paar tagen einen film nochmal gesehen, den ich vor jahren im fernsehen gesehen hatte: DAS FLOß DER MEDUSA, ein jugoslawischer film über eine gruppe von kommunistischen dadaisten, die übers land ziehen und versuchen, die landbevölkerung und die arbeiter in den fabriken dazu zu bringen, gleichzeitig den dadaismus und die weltrevolution durchzuführen. es ist ein sehr ironi­scher, aber auch sehr trauriger und sehr, sehr schön gemachter film, wo ich mich sofort identifiziere, mit diesen leuten. ich habe überlegt, ich habe so eine liste, die in die legende kommen wird: „filme, die ich kenne“. und da nenn ich also filme, CABARET und ROCKY HORROR PICTURE SHOW und DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ, DIE EHE DER MARIA BRAUN, THE WAY WE WERE, alle möglichen filme, die für mich wichtig sind und wo ich einfach sagen möchte: „diese filme kenne ich“, und das ist ja auch ne information. unkommentiert werd ich das irgendwo, an irgendeiner stelle reintun.

und da bin ich mit dem ziel ins kino gegangen, festzustellen, ob dieser film dazugehört. er gehört nicht dazu. und zwar ist die selbstinterpretation: er ist heterosexuell. damit meine ich nicht, daß heterosexuelle liebesverhältnisse dargestellt werden. das habe ich selber schon gemacht und das kommt in den ganzen filmen, die ich jetzt genannt habe, auch vor, das ist überhaupt nicht das kriterium. es wäre ja albern zu sagen, wo heterosexualität vorkommt, das kann ich nicht gutfinden.

SR: in der variante sehr stark auch...

RMS: überall. in der schönheit wieder ganz deutlich, zwischen jimmie und millie. das ist ja einfach ein liebespaar. in der legende auch sehr viel. das wär als kriterium völlig albern. aber ich glaube, dieser film ist auf eine sehr viel vertracktere und verstecktere art und weise heterosexuell. zum beispiel in den landschaftsbildern! ich könnte dir das nicht begrifflich auflösen, warum, aber es ist für mich ein heterosexueller film. mit „heterosexuell“ meine ich natürlich männlich-heterosexuell. wenn ich sage „heterosexuell“, meine ich immer heterosexualität aus der perspektive des mannes, denn die heterosexualität aus der perspektive der frau würde ich immer „weiblich“ nennen und nicht „heterosexuell“.

SR: das weibliche wird durch die machtverhältnisse zu einem oppositionellen und zu einem unterdrückten teil der sexualität und, aus der sexualität folgend, auch der empfindung. könntest du versuchen, anhand dieses films oder anhand von frauenliteratur, zu zeigen, was der unterschied ist? das ist sehr schwierig.

RMS: das ist wahnsinnig schwierig, zumal das auch niemals das einzige kriterium ist. z.b. gibt es autoren, deren heterosexuelle seite mich immer stört, nämlich deren männliche seite. das beeinträchtigt aber, mich selbst erstaunenderweise, nicht mein urteil über diese literatur. d.h. ich kann heterosexualität ganz gut aushalten. wir sind daran gewöhnt worden, daß das so ist und daß die männer da irgendwie auch ne macke haben. auch wie sie dieses verhältnis sehen, das hat etwas ganz merkwürdiges, bis hinein ins menschenverachtende. wir sind ganz gut daran gewöhnt und wissen auch, daß es so ist oft, und da können wir das ganz gut ab. das beeinflußt mein urteil letztendlich nicht – aber andererseits doch unheimlich stark.

ein autor, den ich sehr schätze und wo ich sehr genau lese, was der immer so rausbringt an kleinsten artikelchen oft nur, ist RAINER KIRSCH, der ex-mann von SARAH KIRSCH. der ist auf eine ganz penetrante art und weise heterosexuell. der scheint auch seine probleme damit zu haben. der muß immer wieder sagen, wie sehr die frau unter ihm stöhnt und wie sehr sie nach ihm verlangt, wie toll das ist, daß er ein mann ist und daß dieses vergnügen die schwulen nicht haben können – also es ist penetrant bei ihm. wo ich denke, irgendein problem muß bei ihm sein. aber das mindert seinen literarischen rang überhaupt nicht. das ist schon in gewisser weise etwas getrenntes.

andererseits denke ich, wenn jemand nicht wirklich sehr, sehr gut ist, dann wird er unbrauchbar, wenn er sowas hat. in dem moment, wo ich nicht allerersten ranges bin, wirft mich so ne macke natürlich total zurück. alles, was nicht sehr gut ist, da verzeihe ich das nicht.

was mir auffällt, ist, was haben wir an schwulen romanen in der brd? da ist HUBERT FICHTE mit VERSUCH ÜBER DIE PUBERTÄT und den vorläufern dieses romans. dann JOSEF WINKLER, aber den würde ich nicht zählen, weil da die homosexualität als sehr problematisch dargestellt wird. genauso wie JAMES BALDWIN, GIOVANNIS ZIMMER, das ist für mich ein antischwuler roman, obwohl es natürlich ein schwuler roman ist, aber er hat eine unbewußt antischwule tendenz. was gibt’s? in der weltliteratur gibt es den (JOSÉ LEZAMA-) LIMA, dann gibt’s TENNESSEE WILLIAMS, MOISE UND DIE WELT DER VERNUNFT. dann hört’s auf. man hat wirklich in der weltliteratur im wahrsten sinne des wortes eine handvoll, also nicht mal fünf schwule romane.

SR: auf der anderen seite wird ja allerhand unter homosexueller ästhetik subsumiert von den schwulen selber. sieh dir mal den prospekt an von diesem schwulen buchladen in münchen, was da alles unter schwuler literatur geführt wird.

RMS: das finde ich auch richtig. z.b. SARAH KIRSCH lese ich durchaus als schwuler. das sind für mich erfahrungen, die ich sofort teilen kann. das ist doch das totale identifikationsangebot.

SR: kann sich das schwule element auf dieses identifikatorische beschränken? ist es wirklich bloß das, dieses wiederfinden von sich selbst in einem anderen, der narzißmus?

RMS: ich weiß nicht, mit solchen psychoanalytischen begriffen kommt man doch nicht weiter. man macht das doch immer. literatur ist doch immer etwas anderes. niemals wird sich eine erfahrung vollkommen decken. andererseits ist man immer, auch bei dem abstraktesten stück kunst, immer auf der suche nach identifikation. es ist eine ständige wechselwirkung. als schwuler lerne ich doch – es ist das erste, was ich lerne –, daß ich meine spezifische erfahrung ins verhältnis setze zu der erfahrung der anderen, die eine andere ist. die meisten leute, mit denen ich umgehe, sind nicht homosexuell. das heißt, ich lerne, trotzdem mit ihnen zu kommunizieren. das ist auch der weg, über den ich literatur wahrnehme, heterosexuelle literatur. möglicherweise kann SARAH KIRSCH mit schwulen gar nichts anfangen. das ist aber völlig unmaßgeblich, ob das konkret richtig ist, wie ich sie rezipiere, von ihrem standpunkt aus richtig. für mich sind diese gedichte gedichte, mit denen ich etwas anfangen kann. und das hat sicherlich hundertprozentig damit zu tun, daß ich schwuler bin.

SR: aber es hat auch damit zu tun, welches angebot diese gedichte machen. es ist nicht so, daß für einen schwulen alles schwul ist.

RMS: nein, nein.

SR: würdest du irene binz als einen beitrag zur frauenliteratur bezeichnen?

RMS: ja. ich versuche, die große frauengestalt unserer epoche zu gestalten. ein positiver held. ein positiver held, der alles falsch macht, aber das beeinträchtigt sein dasein als positiver held überhaupt nicht.

SR: was ist die aufgabe eines solchen helden?

RMS: ein vorbild zu sein, ein beispiel zu sein. wenn jemand in einem buch schön ist, dann will der leser auch schön sein. das glaube ich. das ist meine tiefe und feste überzeugung. das ist der grund, warum ich schreibe. ich will schön sein in meinen gedichten ...

neulich hat jemand zu mir gesagt: „du schreibst gedichte, als wenn du berühmt wärst!“ und das ist es genau, was ich will von den lesern. ich will, daß sie so selbstbewußt sind, als wären sie ich. ich kann das von einem normalen menschen wahrscheinlich nicht verlangen: diesen größenwahn, den ich seit zehn jahren mit mir rumschleppe und ohne den ich längst selbstmord gemacht hätte. ich kann wirklich nur leben mit der imagination, daß ich ein berühmter schriftsteller bin, der ich realiter einfach nicht bin. da führt kein weg dran vorbei: ich bin kein berühmter schriftsteller. das ist meine große lebenslüge, wenn du so willst. in fünf jahren ist es hoffentlich keine lüge mehr, aber das ist die konstruktion. die halte ich für eine sinnvolle konstruktion. und in meinen gedichten mache ich das vor; am unmittelbarsten sicherlich. ich sage: „ich bin ne tolle person, ich mache das und das.

ist das nicht prima?“ und dann soll der leser das auch machen und sich auch prima fühlen.

SR: aber da ist doch eine ungeheure gefahr der harmonisierung usw.!

RMS: da ist eine gefahr der harmonisierung, das ist vollkommen richtig ...

SR: ... der selbstbescheidung ...

RMS: nee, selbstbescheidung nicht. da bin ich zu widersprüchlich und zu politisch und zu aggressiv für. selbstbescheidung nicht, aber natürlich harmonisierung, das stimmt. so schön ist ja auch der versuch einer großen harmonisierung.

SR: es stößt in deinen gedichten gelegentlich auf, daß in ihnen, so widersprüchlich und widerspenstig deine prosa ist, eine ungeheuer reine welt gezeigt wird.

RMS: aha. erklär das mal genauer!

SR: eine heile welt teilweise, insbesondere in den liebesgedichten.

RMS: also du meinst, die prosa ist widersprüchlicher als die gedichte?

SR: ja. es kommt mir vor, als wären die gedichte eine entspannung für dich.

RMS: ja, das stimmt.

SR: sie sind sicher manchmal auch raffiniert, aber bei ihnen merkt man es überhaupt nicht, während bei der prosa gerade das artistische betont ist. alle gedichte haben was von gelegenheitsgedichten, mit wenigen ausnahmen.

RMS: der gestaltete moment, ja.

SR: es ist auffällig, wieviele liebesgedichte darunter sind. ganz auffälligerweise wird in den liebesgedichten betont: dieses schöne, ruhige, entspannte moment. es fehlt vollkommen das tragische.

RMS: nee, das fehlt nicht vollkommen, da würde ich widersprechen. es ist natürlich schwierig, selber darüber zu reden. ein für mich perfektes gedicht tatsächlich, wo ich sage: mehr kann ich nicht, oder das ist wirklich was, was ich wollte und das ich gut gemacht habe, ist das gedicht, ich glaube, es heißt „dies“, nein, „brief“ heißt es, ich kann’s auswendig, paß auf:

wenn es nach mir ginge
ging ich zu dir
an alles finge
aber es geht nicht nach mir.[26]

es ist also ein vierzeiler, der sich reimt und (er) ist ganz einfach. und die einzige umstellung: „an alles finge“, ist eine sehr sinnvolle umstellung, betont also einen sinn. ansonsten sind alle vier zeilen völlig einfach, ganz einfache mitteilungen. und diese einfachheit, die widerspricht nämlich jetzt auch deiner these, daß es „harmonisch“ ist. das ist ja nicht harmonisch – es geht nicht nach mir. aber diese ahnung davon, daß wir zusammen sind, die ist da. und die ahnung ist es, die festgehalten wird, nicht die tragik! daß es nicht nach mir geht, das wissen wir sowieso. aber die mitteilung der gedichte ist, daß es eine tendenzverlagerung gibt in richtung auf das schöne.

SR: aber das wollte ich ja gerade sagen: daß die utopie, die in den gedichten ausgesprochen ist, die ahnung eines reinen, schönen ist, und daß der weg nicht in das widersprüchliche führt, sondern...

RMS: ... der weg ist immer der weg in die auflösung der widersprüche! die allerdings niemals geschieht ...

SR: ich meine, daß die widersprüche ein bißchen zu einfach aufgelöst werden. um es ganz einfach zu sagen: diese gedichte scheinen alle in ein kleinbürgerliches glück zu münden. irritiert es dich nicht, daß hier ein glück der zweisamkeit beschworen wird?

RMS: ich würde da sehr widersprechen, wobei ... ich kann mich nicht selbst interpretieren.

wenn du sagst, das sind kleinbürgerliche vorstellungen, dann muß ich das hinnehmen und kann dem nichts entgegnen. z.b. das gedicht „am strand“, da ist der letzte satz: „kommunismus ist immer urlaub“. „am strand liegen wird irene und almut, die mich siezt“, du hast es vielleicht noch im gedächtnis. die letzte sache ist: „kommunismus ist immer urlaub“. ich weiß natürlich, daß ein kommunismus nicht immer urlaub ist, und daß das keine sinnvolle politische vorstellung ist. trotzdem benutze ich einen explizit politischen begriff, um etwas zu beschreiben, das ich gerne möchte und von dem ich weiß, daß ich es weder erleben werde, noch daß es möglicherweise auch nur sinnvoll ist. daß man den ganzen tag am strand liegt und nichts mehr tut. das ist ja eigentlich eine absurde utopie.

es ist eben auch eine utopie, die aus meinem leben jetzt heraus entwickelt ist. also jemand, der den ganzen tag arbeitet, was will der im urlaub? der will rumliegen! das ist schon eine absurdität an sich, auch davon handelt das gedicht, natürlich sehr sehr implizit. aber es ist für mich ein sehr politisches gedicht.

SR: aber, urlaub, da hätten wir’s ja schon, ist eine erscheinung, die durch die (kapitalistische) industriekultur erst...

RMS: ja, eben!

SR: ... also ist deine utopie eine kapitalistische!

RMS: jede utopie ist natürlich wahnsinnig verwurzelt in den realitäten. das ist ja klar. du kannst bei allen utopien, die entwickelt wurden, von ATLANTIS über UTOPIA bis sonstwo, natürlich die zeit mitlesen, in denen sie entwickelt wurden. das ist doch ganz klar. und davon handelt auch dieses gedicht.

es ist übrigens interessant an diesem gedicht „am strand“: die gegenwartsebene des gedichts handelt mit ddr-personen und die vergangenheitsebene mit lauter brd-personen. es ist, auch wenn das da nicht steht, die imagination, ich wäre in der ddr. die ironische anschauung der ddr im hinblick auf einen kommunismus. „ist die ddr das paradies?“, ist die sehr implizite frage des gedichts, die man wahrscheinlich als leser nicht erkennen kann. aber die struktur kriegt man mit. man kriegt mit, daß es eine imaginierte gegenwart ist, die es nicht gibt.

also eben diese merkwürdige kommunismus-vorstellung. ich finde schon, das hat viel mit dem realen leben zu tun. oder das gedicht „zu honeckers bin ich immer gern gefahren“. das ist eine utopie, und gleichzeitig ist einem doch bewußt, daß das keine utopie ist. das ist doch nichts, wo ich wirklich hinwill, was eine ernsthafte vorstellung von utopie von mir ist. und trotzdem stelle ich mir’s vor und trotzdem ist es schön, wenn ich es mir vorstelle! ich finde es sehr widersprüchlich.

SR: wenn du das widersprüchliche (an deinen gedichten) betonst – ich habe das nicht gesehen. ich sag einfach: es wird zu positiv gesetzt. es ist eine positiv gesetzte illusion. es wird zu wenig das gemachte daran hervorgehoben.

RMS: wieso? also, z.b., wenn ich sage, die irene binz ist ein positiver held, die irene binz macht alles falsch. man geht mit der handlung mit und denkt: „jetzt müßte sie das machen!“, und sie macht das gegenteil. es ist alles alles falsch, was sie macht. und sie ist für mich einfach ein positiver held. sie ist für mich ein mensch, den ich liebe und wo ich denk: „jawoll, es ist richtig!“

SR: warum?

RMS: das kann ich nicht so sagen, sonst könnte ich das auch nicht schreiben. das ist für mich ganz positiv, was sie repräsentiert. sie repräsentiert ne stärke und ne kraft und witz und mut. alles, wie sie’s einsetzt, ist grauenhaft und furchtbar und man denkt immer: „was für eine dumme kuh!“ aber als person ist sie doch wahnsinnig liebenswert und wunderbar.

SR: ich glaube, es ist lange her, daß sich jemand gewagt hat, zu sagen, er präsentiere eine positive figur oder positive inhalte. da kämen wir wieder auf die ddr-literatur zu sprechen.

RMS: ja, die machen das ja auch lange nicht mehr. am institut, wenn ich da sage: „ich bin für nen positiven helden“, die schlagen die hände überm kopf zusammen.

SR: du bist, zusammen mit THOMAS SCHULZ, an der arbeit an einem neuen buch. es ist sozusagen wieder land in sicht. können wir von diesem punkt aus noch einmal zurückgehen zu der situation, als du die kleinstadtnovelle herausgebracht und diesen großen erfolg hattest, was hattest du für eine vorstellung, wo dein platz sein könnte in der literarischen welt? was hattest du für zukunftspläne? du hast damals ein interview gegeben, das abgedruckt wurde in dem buch MÄNNERLIEBE von FRINGS und KRAUSHAAR, in welchem du dich geäußert hast über deinen wunsch, star zu sein.

RMS: das verblüffende an dem vorgang der kleinstadtnovelle war für mich weniger, daß das buch dann erfolg hatte, sondern daß es überhaupt gedruckt wurde. das war das eigentliche erlebnis ... oder eigentlich noch eher der erste brief, der von MARLIES JANZ kam, das erste mal in meinem leben das gefühl: es gibt jemanden, der hat das gelesen. das war das eigentliche erfolgserlebnis. es ist so: die MARLIES JANZ bei ROTBUCH hat mir das einmal zurückgeschickt. da habe ich es überarbeitet und nochmal hingeschickt. aber das eigentliche glücksgefühl liegt in diesem brief, der kam. obwohl es eine absage war, das erste mal in meinem leben das gefühl: ich habe einen leser gehabt.

dann war ich ganz frohgemut. dann habe ich es nochmal hingeschickt, relativ optimistisch, mit großer angst natürlich, in großer erwartung natürlich und bangen usw., aber doch mit einem erstaunlichen optimismus, im nachhinein. dann wurde es gedruckt und dann war ich auch erstaunlich optimistisch. dachte, dann werden sie’s alle lesen, und dann haben sie’s auch alle gelesen. das war alles wunderbar. aber das auslösende und das neue war der erste leser, und das war MARLIES JANZ.

SR: es ist für einen debütanten relativ problematisch, gleich mit dem ersten buch einen erfolg zu haben. es war ein bißchen zu hoch angesetzt, oder wie würdest du das heute sehen?

RMS: nö, finde ich nicht. erfolg kann nur nützen. jemand, der durch erfolg geschädigt wird, da war’s dann halt nix. mißerfolg oder erfolg kann einen nicht beirren. mir würde es sicher sehr viel schlechter gehen, wenn ich überhaupt noch keinen text veröffentlicht hätte, dann wäre ich sicher viel mutloser und die texte wären schlechter usw. es ist schon wichtig, erfolg oder mißerfolg, aber letztendlich kann er einen nicht beeinflussen.

erfolg kann nur nützen. JEANNE MOREAU sagt das mal: erfolg macht den schritt leichter, macht das lächeln leichter. erfolg macht, daß man besser mit den dingen zurechtkommt. aber letztendlich ist man immer der, der man ist.

SR: aber, erfolg haben in der brd? ich könnte mir vorstellen, daß du sehr glücklich gewesen wärst, wenn dieser erfolg in der ddr stattgefunden hätte, weil das ein staat ist, mit dem dich sehr viel verbindet, mit dem du stärker übereinstimmst als mit der brd. aber gerade hier erfolg gehabt zu haben und dann im SPIEGEL, in einer ur-bourgeoisen zeitschrift präsentiert zu werden! hat das nicht einen moment bei dir die angst ausgelöst, korrumpiert zu werden?

RMS: ich bin nicht korrumpierbar.

SR: (lacht) wie kann man das mit einer solchen sicherheit sagen!

RMS: ich bin kommunist.

SR: ich bin der auffassung, daß dein erfolg damit zusammenhängt, daß nur ein bestimmter aspekt deines buchen herausdestilliert und das politische abgestrichen wurde.

RMS: das glaube ich auch.

SR: das hat dein schreiben nicht verändert, aber es hat dir doch gezeigt, was hier positiv sanktioniert wird und was nicht.

RMS: klar. und viel stärker hat es mir diese ablehnung von ROTBUCH gezeigt. ich hatte die ROTBUCH-leute vorher für toleranter gehalten. ich hatte wirklich gedacht, daß sie das aushalten könnten. und sie haben es nicht ausgehalten.

das ist schon klar. ich habe leserbriefe gekriegt, wo geschrieben wurde: „lieber ronald, ich habe deine kleinstadtnovelle gelesen, das finde ich ja ganz toll. und deshalb bin ich jetzt bhagwan geworden.“ wo ich gedacht habe: ja, moment mal, haben sie’s gelesen oder haben sie’s nicht gelesen? ich meine, nach der kleinstadtnovelle kann man doch gar nicht zu BHAGWAN gehen, das ist doch unglaublich. und das gibt es einfach. damit muß man sich als autor abfinden. HEINRICH MANN sagt, ruhm ist mißverständnis. natürlich. nur: soviel vertrauen hat man dann zu sich selber, daß man sagt: das halte ich aus und das halten die bücher dann aus.

das war schon sehr verwirrend. ich wurde sehr oft für dinge gelobt, die ich gar nicht geschrieben hatte. aber, das lernt man dann.

SR: das wären schon ein paar mißverständnisse. aber diese integration in die schwulenkultur, die assimilation, wie hast du das empfunden?

RMS: es ist so: es gibt einen punkt auf der welt, an dem ich berühmt bin. einen ort auf der welt gibt es, da komm ich hin und bin berühmt. das ist (das café) ANDERES UFER in westberlin. da weiß ich genau, es sitzen immer ein paar leute drin, die wissen: „das ist der schernikau.“ die schwulensubkultur ist da ganz zuverlässig. das klappt im grunde immer noch.

ich bin neulich in der sauna gewesen und habe jemanden angemacht. ich stand auf dem flur und jemand saß in seiner kabine und hat mich angelächelt. ich bin in die kabine, da haben wir die tür abgeschlossen und er sagte: „ich heiße WERNER.“ ich sagte: „ich heiße ronald“, dann sagte er: „– ronald schernikau“ und hat mir mein leben erzählt. daraufhin war er natürlich völlig ungeil und konnte nicht mehr mit mir schlafen. ne?, weil ich war aus der anonymität rausgehoben. man hatte sich zwar ganz nett unterhalten, aber danach war es unmöglich, noch zusammen zu schlafen.

damit will ich sagen, daß so ein ruhm, dadurch daß es eine abgeschlossene subkultur ist, sich doch sehr lange hält. ich weiß nicht, wer heute noch debütanten von 1980 kennt, die nie ein zweites buch geschrieben haben? wahrscheinlich niemand. aber da ist die schwulensubkultur ganz wunderbar für solche mechanismen. det klappt also nach sieben jahren immer noch, was ja wirklich verblüffend ist. gut. die frage ist doch in dem moment: laß ich mich da runterziehen? d.h. fange ich jetzt an, kleinstadtnovelle, zweiter teil, zu schreiben, oder mach ich weiter meins? da wird, was weiß ich, da wird der gute schriftsteller vorn schlechten geschieden.

SR: du hast dich für den zweiten weg entschieden und bist dafür entsprechend bestraft worden.

RMS: genau. na gut, dafür kann ich nichts. aber dieser erfolg mit der kleinstadtnovelle hat mir auch genug vorrat gegeben. ich weiß jetzt, wie es ist, wenn man erfolg hat. und es war nicht so bedeutend, sondern bedeutend waren viel kleinere geschichten. bedeutend war nicht diese talk-show, obwohl ich andauernd von der erzähle, und natürlich ist es ein erlebnis, in der talkshow gewesen zu sein. ich find’s ganz wunderbar und bin sehr stolz darauf. aber, das ist doch nicht das entscheidende fürs schreiben!

SR: aber jetzt kommt deine rückkehr wieder mit einem text, den man ganz gut als schwulen identifikationstext mißverstehen kann. und er wird auch so mißverstanden werden und wenn er erfolg hat, wird er genau aus diesem grund erfolg haben. man wird sagen: „schernikau, der schwule schreiber“, und keiner weiß, daß du auch die variante geschrieben hast und andere texte.

RMS: genau. die reihenfolge ist ja eigentlich: kleinstadtnovelle, die heftige variante des lockerseins und dann so schön. so schön, die einfachheit des texts beruht ja darauf, daß der text dazwischen, die variante, so unheimlich avantgardistisch war, sag ich jetzt mal, oder sehr kompliziert gebaut und sehr verquer und sehr sich rezeptionsgewohnheiten widersetzend. das ist natürlich das eigentliche skandalon des literaturbetriebs ... die ROTBUCH-leute, gut, die lehnen das ab, weil sie kommunisten hassen. linker antikommunismus, könnte man sowohl des langen als auch des breiten analysieren, das ist mir auch scheißegal im grunde. also so sehr habe ich die ROTBUCH-leute nicht geliebt, obwohl sie immer sehr nett zu mir waren, daß ich drunter leide, daß die mein buch nicht drucken. das isses ja nicht. da gehe ich zu einem anderen verlag. und die ROTBUCH-leute selber haben ja gedacht, daß ich keine schwierigkeiten haben werde, einen anderen verlag zu finden. aber das eigentliche skandalon des literaturbetriebs ist, jetzt in bezug auf ronald schernikau, daß die variante literarisch zu avantgardistisch war, als daß sie bei CLAASSEN oder bei HANSER oder bei SUHRKAMP gedruckt werden konnte. die leute haben mir ja alle noch persönlich abgeschrieben. soweit war ich ja. ich kriege ja keine vordrucke zurück, ich kriege briefe von den lektoren, die mir dann schreiben, sie könnten damit nichts anfangen. STROEMFELD/ROTER STERN, die also durchaus avantgardistische sachen auch gemacht haben, da schreibt mir der lektor: „ich konnte das gar nicht lesen. ich bin in den text nicht reingekommen. ich weiß nicht, was er bedeuten soll.“ diese leute sind offenbar überfordert von anspruchsvollen texten. das ist natürlich skandalös.

SR: du wolltest noch etwas zu dem interview (mit FRINGS/KRAUSHAAR) sagen?

RMS: ja. das interview ist ein beispiel dafür, wie literarische öffentlichkeit funktioniert. in diesem interview sage ich, daß ich in der dkp bin. ich habe mir lange überlegt, ob ich das so deutlich sagen soll. und natürlich gibt’s keinen weg dran vorbei, ist ja albern, das verheimlichen zu wollen. das interview erschien mit einer überschrift und vor allem mit einem foto, wo ich auf eine witzige und selbstironische art und weise kucke. alle erinnern dieses foto. ich werde jetzt noch auf dieses foto angesprochen, wenn ich auf ne bestimmte art und weise kucke und diese haarsträhne vorm gesicht habe. da sagen die leute: „ach, wie auf dem foto!“ – nach fünf, sechs jahren. daß ich in der dkp bin, das weiß aber keiner. die leute sind verblüfft, wenn ich ihnen das sage, obwohl das in diesem interview steht, mit diesem berühmten foto. das hat offenbar niemand gelesen, wichtig ist das foto. sie hätten auch das foto allein drucken können.

das ist auch ein kompliziertes interview, und deshalb bin ich auch nicht zufrieden mit dem interview, ich find’s mittlerweile nicht mehr richtig, so komplizierte gedankengänge in so einem buch zu sagen. ich würde mich heute bemühen, viel einfacher zu sein. ich finde alles richtig, was da steht, ich glaube nur, daß ich es schlecht vermittelt habe. aber der witz ist, daß die leute det gar nicht lesen, die sehen nur das foto! das ist natürlich was wirklich schreckliches. ich kann hier, was weiß ich, ich kann auf der titelseite von der SIEGESSÄULE sein – dahin werd ichs och noch bringen! –, was wird der effekt sein? keiner. ich werde mich am kiosk sehen, und das ist ein schönes gefühl, und ich kann’s nur jedem wünschen. aber der effekt ist gleich null. das ist das grauenhafte. man hat es und man sieht, es nützt nichts: das ist das literarische leben.

SR: das ist eine bewegung der vermarktung ...

RMS: ... eine entinhaltlichung ...

SR: ... aber das ist eine folge der vermarktung.

RMS: ja.

SR: ein autor, den du selber schätzt, RAINALD GOETZ, hat nun diese struktur der kapitalisierung des literaturbetriebs benützt, um sich selber auf dem markt einzuführen. er hat eine skandalöse handlung begangen, um sich zu lancieren. ähnliches kann man heute auf dem kunstmarkt beobachten, wo die künstler wie die popstars sich präsentieren, angeblich, um diese struktur auszunützen und dann auch etwas zu vermitteln. aber können sie auf diese weise etwas vermitteln?

RMS: das intentionale an diesem akt von RAINALD GOETZ würde ich leugnen.

SR: aha. aber es ist so angekommen.

RMS: natürlich. alles kommt so an. das ist das problem! das ist das problem! aber die intentionalität zweifele ich an. das problem ist, daß du machen kannst, was du willst. das ist ein wunderbarer zustand, den BRECHT vor fünfzig jahren vorausgesagt hat, MAHAGONNY, diese MAHAGONNY-metapher, die sich da ja immer durchzieht: „hier darfst du alles dürfen.“

und diesen zustand haben wir nun erreicht. DIEDRICH DIEDERICHSEN sagt: „wenn man das eine sagt, dann kommt unweigerlich jemand und sagt: ‚vielen dank. und nun werden wir mal den gegenstandpunkt hören.’“ also dieser terrorismus des pluralismus, ne, der was ganz schreckliches ist. worum uns die ddr-leute immer beneiden, die sagen: „da darf man alles sagen!“

wir haben nun selber schon über die grenzen gesprochen. natürlich gibt es grenzen. z.b. der terrorismus selbst, als politisches phänomen, ist von dieser kommunikation völlig ausgeschlossen. aber, gut, also die grenzen sind doch sehr entfernt für einen normalen menschen. ein normaler mensch kann alles sagen, alles machen – alles unterworfen den kapitalistischen gesetzen natürlich, die gesetze der gesellschaft kann man nicht außer kraft setzen. aber alles, was wir überbau nennen, ist ganz weit und vielfältig und bunt und wunderbar. und im fernsehen hat sogar RAINALD GOETZ in gewissem rahmen doch seine möglichkeit, da aufzutreten, und seine möglichkeit, seine texte zu veröffentlichen hat er. wenn auch im SPEX noch (RICHARD) WEIZSÄCKER ausgeschrieben steht und in der SUHRKAMP-ausgabe desselben textes sind dann eben drei sternchen. na gut, das sind so sachen, das ist ja nicht das entscheidende. die frage ist: wie radikal muß man noch werden? so radikal wie RAINALD GOETZ ist im moment keiner. die artikel sind von einer bestialität, von einer schärfe, von einer aggressivität, von einer klarsicht, die hat niemand sonst. die frage ist: kann das alles etwas nützen? und das problem ist, daß die antwort eigentlich ist: nein, es kann nichts nützen, es nützt nichts.

eben, weil das system stark ist. das system schluckt alles, macht alles zu einer bestätigung. noch die radikalste ablehnung, z.b. RAINALD GOETZ’, wird rezipiert als ein mitmachen des kunstbetriebs, wie du es jetzt implizit gemacht hast, ganz zynisch im SPIEGEL, leider von HARTMUT SCHULZE, der ein mann war, den ich wirklich als person auch geliebt habe und der wirklich ein ganz wunderbarer mensch war, der aber dumm genug war, diese ganzen mechanismen mitzumachen und selber zu reproduzieren und noch zu unterstützen, sich an jemand vergriffen hat wie RAINALD GOETZ, der ein genie ist und von dem er behauptet hat, er sei kein genie, sondern jemand, der die mechanismen besonders zynisch ausnützen würde, was ein ekelhaftes mißverständnis ist.

die frage ist: was kann man noch tun? und ich bin pessimistisch genug, zu glauben, daß man nur noch auswandern kann. das ist eine sehr traurige sache. und wenn mir jemand sagt: „man kann nur noch auswandern“, dann werde ich ihm heftig widersprechen. aber leider glaube ich es selber.

SR: erstens einmal ist mir das zu resignativ, zumal für einen kommunisten. zweitens: gut, wenn es diesen pluralismus gäbe, warum bist du dann nicht gedruckt? das ist doch ein widerspruch.

RMS: wie MARX sagt so schön, in einem brief: sie sind dumm, die schurken. sie sind natürlich immer dumm. d.h. auch ROTBUCH war dumm. wenn die die variante gedruckt hätten, so kommunistisch wie in diesem fünften kapitel war ich nie wieder hinterher. d.h., wenn sie die variante genommen hätten, hätten sie die weiteren sowieso och genommen. d.h. sie hätten mich einkaufen können. nun läuft das alles eben nicht intentional. jede unterstellung von intentionalität ist glaub ich naiv. das läuft alles über mechanismen und nicht bewußt jetzt: „wir kaufen den ein!“, so doof ist das system nicht.

die hätten mich schon haben können. ich war ja bereit, auf die zuzugehen. und ich wäre teil auch deren subkultur geworden. ich hätte da im KURSBUCH schreiben können und so, das war ja alles dicht davor. da wär ich jetzt teil dieser bestimmten subkultur. natürlich wär ich weiter kommunist geblieben, aber die hätten mich eben auch gehabt und hätten mich da sicher stärker einbinden können, als ich es jetzt bin. d.h., sie waren dumm.

SR: das ist wirklich die frage! ob jetzt RAINALD GOETZ die mechanismen ausgenützt hat oder nicht ... ersteres habe ich angenommen, gar nicht abwertend. es ist ja eine absolut kluge haltung, wenn man mechanismen vorfindet, sie zu benutzen, nicht? es scheint deiner resignativen haltung in diesem punkt zu widersprechen, daß gewisse formen einfach nicht durchdringen. es gibt einen pluralismus, aber es werden nur bestimmte formen zu diesem pluralismus dazuaddiert. daß es eine möglichkeit der opposition, der gegenseite, des widerspruchs, der negativität gibt, das scheint sich gerade da auszudrücken, wo das system – und das system, da sprechen wir nicht von intentionalität, sondern von einem super-automaten, das ist ganz egal, wir können es personifizieren, um es einfacher zu fassen –, wo das system mit bedacht und mit grund ausgrenzt. ich glaube, es gibt gründe, gewisse leute nicht zu diesem markt zuzulassen. das würde ich geradezu als einen hoffnungsschimmer sehen. ... da mußt du jetzt widersprechen!

RMS: nein, ich widerpreche nicht, ich versuche, dich jetzt erstmal zu unterstützen. es ist jetzt rausgekommen, von ANDRÉ MÜLLER, ein roman, den hat er vor fünfzehn jahren geschrieben; das ist so ein alter genosse aus köln, dessen bücher alle zuerst in der ddr erschienen sind. und dieses buch konnte in der ddr aus irgendwelchen gründen nicht erscheinen und ist dann im westen auch nicht in einem parteiverlag erschienen. es ist schon die frage, wie passiert das? gibt es tatsächlich offenbar texte – ich kenne diesen roman noch nicht, er handelt von der studentenbewegung –, gibt es tatsächlich texte, die rausfallen aus dieser pluralität? konkret: natürlich. offenbar gibt es das. und konkret bin ich selber so ein fall. ich glaube nur, und das ist teil meines pessimismus, daß auch ich eines tagen gedruckt werden werde und es auch an meinen texten einen aspekt gibt, wo leute sich entschuldigen können dafür, daß sie nicht kommunist sind. meine persönliche anschauung ist: wenn man meine texte liest, kann man nur kommunist werden oder man muß es sein. nur, es wird immer für irgendwen irgendeine entschuldigung geben, daß er es nicht wird. das glaube ich nicht, daß ich das schaffe.

solange es das gibt, solange man den HÖLDERLIN in die feldtasche des nazisoldaten tut – und das wird immer passieren, so interpretierbar werden texte von literarischer art immer sein –, solange wird man auch alles drucken können in der bundesrepublik.

SR: wie geht es weiter? wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, daß du in leipzig studierst. welche perspektiven eröffnet das? glaubst du, daß du in der ddr gedruckt wirst, möchtest du dort leben? was möchtest du erreichen, wie siehst du, platt gesagt, deine zukunft?

RMS: ich glaube, diese situation hat auch etwas mit meinem „literarischen schaffen“, wie man ja in der ddr sagt, zu tun. die legende wird als zwischenspiele diese vier großen sachen haben, die bisher nicht gedruckt sind. d.h. es wird fünf große kapitel geben und dazwischen in der chronologischen reihenfolge: die variante, so schön, irene binz und die schönheit. und in der mittleren szene der legende, von der konstruktion her als zentrum, die gedichtesammlung, das hohelied des pförtners, und die artikel, die wichtig bleiben und sind, auch noch integriert in den text. d.h. es wird, in dem moment, wo die legende rauskommt – gott gebe, daß sie jemals erscheint und daß ich sie schreiben kann –, es wird also das opus magnum und es wird alles drinnen sein.

SR: ist das nicht eine überladung dieses textes? warum beläßt du es nicht bei der (für die legende) entworfenen handlung?

RMS: aus ganz praktischen erwägungen natürlich. wenn die vier texte gedruckt würden, würde ich nicht auf die idee kommen, sie in die legende zu integrieren. dann hätte ich keinen anlaß dazu. das ist übrigens bei der TROBADORA BEATRIZ ähnlich gewesen. (IRMTRAUD MORGNER) hat einen roman geschrieben, der in der ddr nicht gedruckt wurde und daraufhin hat sie teile übernommen und ist da über diese sache überhaupt zur montageform gekommen. das sind oft wahrscheinlich zufälle auch, die sowas machen. aber jetzt gehört das dazu. ich werde das sicherlich nicht weglassen, sondern ich werde das so machen.

das heißt, damit ist diese phase abgeschlossen. das heißt auch, wenn die legende nicht gedruckt wird, dann muß ich mir wirklich überlegen, ob ich mir nicht einen anderen beruf suche. ich gehe aber davon aus, daß sie gedruckt wird und ich gehe davon aus, daß ich sie schreiben kann, daß ich sie schreiben werde. ich habe nun 1500 seiten notizen und ich habe jetzt eine lösung für die götter, ich habe die handlung, ich hab die konstruktion, ich hab den aufbau. ich stehe kurz vor der ersten fassung. dann habe ich das fertig. dann werde ich das im westen veröffentlichen. ich werde versuchen, es zu veröffentlichen. hoffe, daß die einzelnen texte, die als einzelne texte nicht durchgekommen sind in den verlagen, als gesamtes dann durchkommen werden ...

SR: das leuchtet mir gar nicht ein, wieso du, der du bis jetzt immer davon ausgegangen bist, so interpretiere ich das jedenfalls, „weniger ist mehr!“, wieso du jetzt versuchst, so einen riesentext, der im allgemeinen viel schwerer anzubringen ist, noch über die maßen zu längen? warum läßt du nicht die alten texte raus und versuchst, einen neuen text zu schreiben, der noch einigermaßen, vom kostenstandpunkt her, zu veröffentlichen ist?

RMS: so kann ich nicht denken. entweder ein verlag liebt mich und bringt auch ein 1000­-seiten-buch raus oder nicht.

SR: bisher haben sie dich nicht geliebt.

RMS: sie werden mich lieben, weil ich ein genialer schriftsteller bin. da bin ich ganz gewiß. die texte kommentieren sich ja auch untereinander. sie haben schon etwas miteinander zu tun. man könnte nicht jeden x-beliebigen text in dieselben buchdeckel bringen, das ginge nicht. die variante hat etwas bestimmtes mit so schön zu tun, so schön etwas bestimmtes mit der irene binz und irene binz etwas bestimmtes mit der schönheit, diese vier sachen etwas bestimmtes mit der legende und auch mit den gedichten und auch mit den artikeln. und gerade die heterogenität, die geeint wird durch die individualität des autors, garantiert ein größtmögliches lesevergnügen. ich sehe das auch vom unterhaltungsstandpunkt aus. ich glaube, jemand, der meine artikel haßt, wird die gedichte lieben. und jemand, der die variante überdreht und manieristisch findet, wird sagen: „so schön habe ich wunderbar gefunden.“ jemand, der sich mit der irene binz identifizieren kann, wird sagen: „die millie, die hat ne klatsche!“ das macht aber alles nichts, sondern das ist gut und richtig so. ich habe ein gewisses vertrauen in die macht dieser text und denke, daß 1000 seiten schernikau besser sind als 100 seiten schernikau. es wird das kürzeste buch, das ich kenne, dafür kann ich garantieren!

SR: das will ich dir nicht streitig machen. es kommt mir nur seltsam vor, daß wenn ein kurzer text nicht ankommt, ein erheblich längerer ankommen sollte.

RMS: weil sich der text selber immer wieder kommentiert! dadurch. dadurch, daß er über zehn jahre hinweg entstanden sein wird, ist er seine ständige selbstkommentierung. die motive bleiben gleich, oder verändern sich, hängen jedenfalls zusammen.

SR: die einzelnen texte sind durch ihre zusammenstellung besser zu verstehen.

RMS: ja. das ist ein dramatisches prinzip. die eine perspektive kommentiert die andere. und das ist es eben, was jetzt bei der veröffentlichung von so schön wegfallen wird. so schön ist nur verständlich als folge der variante. die variante ist so kompliziert, danach mußte man etwas ganz einfaches und naives machen. und das ist so schön. wenn so schön ohne variante rauskommt, ist es eigentlich an sich ein mißverständis und man dürfte es eigentlich nicht machen. schon gar nicht in dieser scheiß-reihe ROWOHLT/MANN. aber, da habe ich eben ein gewisses urvertrauen und denke: in der gesamtausgabe wird sich das dann zeigen. jetzt macht man erstmal diesen mist. das macht aber nichts. so stark ist der text, daß er doch noch irgendwo etwas hat von einer traurigkeit, von einer gesellschaftlichen dimension, was alles natürlich in den augen von ROWOHLTs wegfällt und was die nicht haben wollen. aber ich denke, so stark ist das und das wird schon kommen, irgendwann, irgendwo.

SR: aber nicht in der ddr, oder?

RMS: ich glaube nicht, daß irgendeiner der texte, die dann in der legende enthalten sein werden, in der ddr gedruckt werden wird. und da sind wir wieder bei der momentanen situation. ziel ist also, in den zwei jahren, die ich jetzt noch in der ddr auf jeden fall sein werde, die legende zu schreiben und möglichst loszuwerden und die dann hier gedruckt zu haben. und dann möchte ich in der ddr weiterleben und -arbeiten und dann werde ich sicher ddr-texte schreiben. dann werde ich mit der situation zurechtkommen müssen, daß in der ddr andere literarische und gesellschaftliche gesetze herrschen und ich mit denen zurechtkommen muß. ich kann immer noch in die situation geraten, daß weiterhin kein einziger meiner texte in der ddr gedruckt werden wird. das wäre grauenhaft. aber das muß ich eben ausprobieren. im moment möchte ich es gerne ausprobieren. darunter zähle ich aber die legende nicht. darum mache ich mir nicht solche gedanken, weil ich denke, die legende, das ist wirklich noch’n west-text.

SR: du hattest vorhin widersprochen, als ich sagte, daß die ddr-literatur noch intakte zielvorstellungen habe. was ist der unterschied zwischen brd- und ddr-literatur?

RMS: „intakte zielvorstellungen“, das ist ein begriff, der einfach nicht tauglich ist. der unterschied ist ... ich will’s nicht auf der ebene der literatur sagen, sondern auf der des alltäglichen lebens. ich treffe ständig leute, bei denen alles zusammenkracht und nicht klappt und alles ist furchtbar und schrecklich – und sie sind alle optimistisch. sie erzählen die grauenhaftesten schoten, was alles nicht geht, „und das hat nicht geklappt ... und hier ... und furchtbar, furchtbar ... aber – det wird schon!“

SR: woher kommt diese kraft?

RMS: das ist der sozialismus. ich habe kein wort oder keinen satz, der das erklären kann.

ich weiß nur: das ist der unterschied zwischen der ddr und brd und das ist der grund, warum ich die ddr so liebe und das ist der grund, warum ich da sein möchte.

SR: du hast selbst einmal gesagt, daß du mehr in der ddr-kultur verankert bist als in der brd-kultur. du bist ein sehr guter kenner der ddr-literatur und der gesamten kulturszene. diese liebe hat autobiographische hintergründe. du bist mit deiner mutter aus der ddr ausgewandert und deine mutter ist auch im westen kommunistin geblieben. fürchtest du nicht die deutung, daß es wirklich eine liebe ist und nicht so sehr eine reflektierte haltung?

RMS: was heißt fürchten? ich glaube, daß politisches engagement immer mit biographie zu tun hat. der eine kann eben seine kraft dafür einsetzen, hat den mut und die klugheit, das zu tun, und der andere nicht. ich glaube auch, daß das keine pessimistische aussage ist, daß es auch keine entschuldigung für irgendwas ist. ich glaube, damit muß man sich einfach abfinden. der eine wird kommunist und der andere nicht. und obwohl ich mir wünsche, daß jeder mensch auf der ganzen welt kommunistisch handelt und denkt, muß ich mich doch damit abfinden, daß nicht jeder den gleichen standard an handlung hat und die gleiche intention und den gleichen überblick. sondern ich muß sagen: der eine ist an seinem platz im schwulen buchladen und da ist er auch gut und das ist auch richtig, was er da tut. der andere ist eben hauptamtlich bei der partei, und ich muß beide akzeptieren können.

SR: (lacht) das hört sich jetzt so an, als ob einer sagt: „die imbezilen haben auch ihr lebensrecht“. „es kann nicht jeder kommunist sein“ hört sich so an wie: „es kann nicht jeder klug sein.“ das ist ja arrogant!

RMS: das ist sicherlich arrogant und zu der arroganz stehe ich auch. natürlich. klar.

SR: das ist, was mir den kommunismus teilweise verhaßt macht, daß er glaubt, den höheren standpunkt und den weiteren blick zu haben. das ist in meinen augen nicht klug. klugheit wäre in meinen augen auch ein bißchen ratlosigkeit, in gewisser weise auch bescheidenheit. jetzt kannst du wieder sagen, das ist meine schlechte ausstattung.

RMS: ich glaube, die widersprüche haben wir die ganze zeit genug benannt. und bescheidenheit? natürlich ist bescheidenheit ganz schön, aber ich bin eigentlich nicht bescheiden. dazu stehe ich auch, daß ich nicht bescheiden bin. ich bin, glaub ich, kein bescheidener mensch.

um nochmal auf diesen zusammenhang zwischen biographie und politik zurückzukommen: natürlich ist meine liebe zur ddr aus biographischen momenten entstanden. nur, ich habe früher auch SUPERMAN geliebt. es kommt doch eine gewisse überlegung dann dazu, wenn man erwachsen wird. und man legt dinge ab und andere dinge pflegt man. ich glaube, daß man nicht ganz machtlos ist gegenüber seiner eigenen biographischen disposition. es gibt hunderttausend leute, die in in diesem land kommunist geworden sind, obwohl sie keineswegs in der ddr aufwuchsen. man hat da schon einen gewissen handlungsspielraum, denke ich. darauf vertraue ich auch. sonst könnte ich aufhören zu reden, weil dann würde das bedeuten, daß nur ich draufkommen kann und die andern nicht, weil sie eben nicht in der ddr aufgewachsen sind. so pessimistisch bin ich doch nicht (lacht).

SR: als kleinbürgerlicher radikaler habe ich im hinterkopf, daß man sich gegen seine eigene disposition geradezu stemmen muß, um erst einmal zu einer distanz zu kommen. wenn ich jetzt auf die welt käme und wüßte, mein mutterprinzip wäre der kommunismus, dann könnte ich aus prinzip den kommunismus nicht akzeptieren, weil ich mich, um eine distanz zu bekommen, erstmal davon abheben müßte. gab’s bei dir auch mal so ne phase?

RMS: ich weiß, daß das bei 99% mindestens, ich würde sagen 99,9% aller menschen so ist, wie du es beschreibst. ich weiß – es ist ein wissen –, daß ich eine außergewöhnliche disposition habe, die mich auch z.b. im alltäglichen leben sehr konfliktscheu macht. ich bin nicht gewöhnt, widersprüche zu ertragen. ich bin tatsächlich in einer außergewöhnlich harmonischen disposition großgeworden. es ist heute noch so – und das ist sicherlich teil einer solchen abstoßung, die du beschreibst –, daß ich meine mutter nicht sehen kann, weil ich sie zu sehr liebe. wir verstehen uns am telefon, wir unterhalten uns eine halbe stunde, und wir verstehen alles voneinander. es gibt überhaupt kein tabu zwischen uns, keine lücke in der kommunikation, so daß es schon fast ...

SR: ... erschreckend ist.

RMS: allerdings. es ist wirklich zum teil erschreckend. ich tanze genauso wie meine mutter, ich sehe aus wie meine mutter, ich bevorzuge die männer, die meine mutter bevorzugt, ich habe dieselben politischen ansichten, ich habe denselben geschmack im film ... bei mir ist es nun alles etwas höhergetrieben durch meinen beruf. ich habe sicher eine professionellere sicht auf bestimmte dinge. aber ich bin völlig, hundertprozentig meine mutter. ich weiß, daß das sehr ungewöhnlich ist. ich weiß, daß das vielleicht sogar ein zeichen für instabilität ist. das kann man schlecht selber beurteilen. es könnte sein, daß es ein zeichen für instabilität ist. aber es ist so. und ich habe mich gerade im zuge der irene binz damit abfinden müssen, daß es so ist. diese abstoßungszeit, die du beschreibst, war eben im alter von 20, 22, 23 jahren, als ich die irene binz geschrieben habe, war zur zeit der ersten fassung der irene binz. wo ich wirklich dachte, meine güte, ist das grauenhaft und das ist eigentlich eine ganz dumme person, die ich hier beschreibe. was aber übrigbleibt, glaub ich, bei diesem text von der irene binz, ist, daß es die liebenswerteste person der welt ist und daß man überhaupt nichts gegen die person sagen kann. obwohl es eine dumme kuh ist, aber es ist die wunderbarste dumme kuh, die ich kenne.

SR: es ist ein extremer traditionalismus. ich würde es in eine vor-moderne zeit, ins mittelalter vielleicht, situieren, daß ein mensch das gefühl hat, um sich zu vervollständigen, um zu reifen, muß er den spuren der vergangenheit sozusagen nachgehen.

RMS: es ist auch etwas, warum ich mit antikommunismus sehr schwer zurechtkomme. ich verstehe ihn eigentlich nicht. ich weiß nicht, was das ist und warum er auf der welt ist. intellektuell kann ich mir das erklären. die meisten genossen in der partei sind relativ unempfindlich gegen antikommunismus. sie sind ja selber in einer ganz antikommunistischen umgebung aufgewachsen. bei mir ist das anders. deshalb bin ich ganz hilflos in konfliktsituationen. es ist eigentlich eine bestimmte unfähigkeit bei mir auch, dinge wahrzunehmen. deshalb bin ich immer so auf der suche nach innensicht. ich frage mich immer, was passiert denn in den menschen? die andern wissen das längst, was passiert in den leuten, die antikommunistisch denken. aber ich weiß das oft gar nicht und versuche, das rauszukriegen. ich denke, so eine außergewöhnliche konstellation in meiner biographie kann ganz nützlich sein, wäre auch für den westen nützlich. andererseits wird es auch für die ddr ganz nützlich sein, jemanden zu haben, der wiederum meine erfahrungen hat und das in die literatur einbringt.

SR: du hast zur überbrückung auch journalistisch gearbeitet. du hast einen bericht über aids gemacht. möchtest du über den zusammenhang von aids und sozialen veränderungen sprechen?

RMS: ich glaube, leute, die politisch darüber reden, gibt es kompetentere. was MATTHIAS FRINGS zu dem zusammenhang zwischen gesellschaft und aids gesagt hat, das kann ich nur unterschreiben.

SR: das wäre?

RMS: das will ich nicht wiederholen. das ist ja langweilig. das kann MATTHIAS FRINGS besser machen. das kann man ja überall nachlesen, wo er geschrieben hat.

interessant, glaube ich, an der frage aids ist: aids als metapher. so wie mich auch wahnsinnig der politische terrorismus der ersten generation, also MEINHOF, BAADER usw. interessiert – natürlich nicht als politisches phänomen; als politisches phänomen ist es naiv und dumm, zu denken, daß man nur den präsidenten umbringen muß, damit sich der staat ändert, da kann man kein wort darüber verlieren über diese einstellung. aber als literarische metapher ist es natürlich wirklich interessant. und ich denke, irgendwann werde ich ein libretto oder ein stück über terroristen schreiben. denn als sehnsucht, daß man nur jemanden umbringen muß und dann wird sich alles ändern, ist es die verständlichste und schönste sehnsucht der welt. daß sie nicht funktioniert, ist völlig klar und liegt auf der hand. aber als phänomen einer person, die eine knarre in die hand nimmt, kann ich es sehr gut verstehen. wie gesagt, das ist keine politische diskussion, sondern eine literarische. so wie man auf der bühne einen mord darstellt, weil man in dem moment den mörder gut versteht. das heißt ja nicht, daß man denkt, daß ein mord eine sinnvolle handlung ist.

und so ist es auch mit aids. was da ausbricht, nicht nur an homophobie, sondern auch an selbsthaß der schwulen, an angst der schwulen – die ja keine angst vor dieser krankheit ist; vor der krankheit kann man keine angst haben, die kommt oder kommt nicht für einen selber als individuum. man kann nichts tun. dagegen hilft ja kein kondom, das ist völlig albern. was da also rauskommt an gesellschaftlichem mechanismus, das ist schon interessant. gleichzeitig hat es ein intellektuelles und gesellschaftliches niveau, das uninteressant ist. also die auseinandersetzungen in der brd, an denen ist ja nicht anstrengend, daß sie laufen, sondern wie dumm sie laufen.

SR: könntest du das noch ein bißchen schärfer fassen. aids – metapher für was?

RMS: dafür, daß die leute sterben wollen.

SR: ... der todestrieb ... das ist eine schon von medizinern vertretene these, daß man z.b. krebs als ...

RMS: ... selbstaggression ...

SR: ... als selbstaggression annimmt.

RMS: parodontose. ich bin jemand, der sehr unter seiner parodontose leidet. mein mund blutet morgens und abends. parodontose wird auch als selbstaggression interpretiert. ich habe auch schwierigkeiten ... ich leide unter (hoheitsvoll:) einer leichten übersäuerung meines magens.

ich bin da durchaus nicht frei von. ich denke auch z.b., daß jemand, der raucht – es ist immer ein etwas banales beispiel, ich will es niemand abnehmen, ich will keinen verurteilen dafür, dazu ist das ja zu lächerlich –, ich glaube, daß jemand, der raucht, sich selber umbringen möchte. ich glaube, daß jemand, der ein auto kauft, sich selber umbringen möchte. das mag für das einzelne individuum, das mir gegenübersitzt, nicht stimmen. ich möchte da gar nicht individuell darüber diskutieren. wie gesagt, dazu ist es zu banal und dafür stecken wir alle viel zu sehr drin. aber, als gesellschaftliches phänomen halte ich das für völlig klar. da brauchen wir auch gar nicht darüber zu reden, das ist so.

und das ist auch aids. aids ist eine form der selbstzerstörung. ganz deutlich wurde mir das ... (lacht) es wird auch in der legende vorkommen: der aidskranke, der sich vor die kamera stellt und sagt: „ich habe zwar in meinem leben nichts erreicht. aber immerhin sterbe ich vor einer kamera. das habe ich also in meinem leben erreicht.“ das ist die funktion von aids.

SR: – daß diese krankheit einen exhibitionismus ermöglicht?

RMS: sag das nicht in solchen begriffen! das weiß ich alles nicht. ich weiß nur, daß es passiert. das ist glaub ich auch der vorzug von literatur: sie muß solche begriffe nicht haben. ich weiß da keinen begriff für, aber das ist so.

SR: klar, das wäre der unterschied von literatur zur wissenschaftlichen ausdrucksweise. ich möchte diesen punkt nicht so einfach abschließen. der faßbar gewordene todestrieb ...

RMS: das wort „todestrieb“ lehne ich übrigens ab. aber ’s is’ ja egal.

SR: was hattest du eben gesagt? todessehnsucht?

RMS: nein, nein, das würde ich alles nicht sagen.

SR: was würdest du sagen?

RMS: die leute wollen sterben. das glaube ich schon. jemand z.b., der in unserer jetzigen situation diesen hiv-test machen läßt, der will sterben. das ist ganz klar. dieser test bietet ja keinerlei information. ich weiß nicht: hatte ich die krankheit?, habe ich sie?, werde ich sie haben?, das ist ja alles völlig unklar. werde ich sie jemals haben? – völlig unklar. jemand, der diesen test macht, erwartet ja, daß er positiv ist. d.h., da er erwartet, positiv zu sein, erwartet er, zu sterben, d.h., er will sterben.

SR: gut. aber du setzt das jetzt ganz negativ!

RMS: ich setze das nicht negativ. ich sage: so isses. ich setze das nicht negativ.

SR: krankheit ist eine möglichkeit, sich selbst zu erfahren, nämlich gerade als etwas vergängliches. es ist ein philosophisches problem, daß leben nur in bezug auf den tod erfahrbar ist.

RMS: ich glaube, was du (sagst) mit dem tod und so, das hat genau was damit zu tun, warum ich die götter einführe. bei mir sind die götter die reinkarnation von vier bestimmten personen. d.h., die sind tot, kommen aber wieder. und dieser begriff „tod“ taucht bisher überhaupt noch nicht auf. ich nehme an, daß er überhaupt nicht auftauchen wird. es geht nicht ums sterben, sondern es geht um die frage des sinnvollen tuns. ist das, was man tut, sinnvoll? wenn es sinnvoll ist, ist es in jedem moment sinnvoll. d.h., das sterben ist für mich überhaupt keine frage. ich hatte das als unbewußtes gefühl immer. klargeworden ist mir das – HANNS EISLER sagt das in seinen gesprächen mit HANS BUNGE, sagt: wenn ich sterbe – ich habe doch nur das getan, was ich tun konnte. wenn ich morgen sterbe, das ist natürlich sehr schade. aber ich habe keine todesangst.

da ist mir klargeworden, daß ich auch keine todesangst habe. gerade jetzt in diesem stadium wär es wahnsinnig schade, weil dann hätte ich die legende nicht geschrieben. das wär schon blöd. also ich möchte gerne die legende noch schreiben. so ist das nicht. ich möchte auch gerne leben! ich lebe gerne und möchte gerne weiterleben. aber ich habe doch in jedem moment das getan, was ich tun konnte. und dieses gefühl ist natürlich ein wahnsinniges privileg und hat sicher auch zu tun mit dem beruf, den ich habe, daß ich diesen beruf also relativ selbständig und unabhängig von äußeren bedingungen ausübe.

SR: mit deinem kommunismus hat das auch zu tun. für christen und kommunisten dürfte der tod eigentlich kein großes problem sein. (lacht)

RMS: (lacht) ja, das stimmt. das hat sicher auch mit dem kommunismus zu tun.

SR: mir ist zuwider an allen suizidalen akten die erfüllung einer machtstruktur in der gesellschaft, die eben das andere auslöschen will. wenn der schwule das nun erfüllt in seinem selbsthaß, dann ist mir das zuwider. aber im tod ist auch etwas verdrängtes, ein oppositionelles moment. wenn sich jemand offen umbringt, sei es durch drogen oder sonstwas, dann ist das etwas, was gesellschaftlich nicht erwünscht ist, etwas destruktives, aus dieser bewegung könnte auch etwas politisch wirksames entstehen.

RMS: und aus dem, was du sagst, ergibt sich der letzte satz dieses interviews. das ist es nämlich, das hauptproblem, genau das ist der grund, warum ich hier nicht leben will: destruktion interessiert mich nicht.