Ronald M. Schernikau

DAS KONKRETE IST NATÜRLICH BÖH


Nachdem endlich alle alles sagen dürfen, wird jetzt auch über das beliebte Länderwechseln gesprochen. Ronald M. Schernikau, Schriftsteller, geboren 1960 in Magdeburg, war zuerst DDR-Bürger, dann BRD-Bürger, dann Westberliner, und ist jetzt wieder DDR-Bürger. Schweres Schicksal oder Curiosité?. Das Gespräch, das Thomas Blume, Redakteur der DDR-Zeitschrift »Temperamente«, am 18. Januar mit Schernikau führte, verlief in heiterstem Tone


Blume: Ich weiß, daß du 66 mit deiner Familie in die BRD gekommen bist...

Schernikau: Du bist ja wahnsinnig gut informiert...

Danke - , ab80 in Westberlin warst und 86 als BRD-Bürger...

Als Westberliner, ja...

Das ist ja vom Paß her kein Unterschied.

Doch.

Oh. Also seit 86 hast du in Leipzig studiert, am Literaturinstitut, drei Jahre, warst also 89 fertig. Und bist dann nach Westberlin gefahren, um deine Sachen zu holen und in die DDR überzusiedeln.

Ganz genau so.

Ja. Und warum nun?

Warum?

Ja. Ich verstehe es nicht. Wie bist du überhaupt zu der Ausbildung in Leipzig gekommen? Ich vermute, das ist über irgendwelche Institutionen gelaufen, also DKP oder so. Daß die dich delegiert haben.

Es gibt in Westberlin keine DKP. Aber es gibt die Partei, inzwischen muß man wohl sagen, es gab sie, die Sozialistische Einheitspartei Westberlins. Und der Witz war, die Partei wollte mich nicht delegieren. Wir hatten ja unsern Horst Schmitt, unsern Parteivorsitzenden, und da es so viele Schriftsteller in Westberlin nicht gab, die in der Partei waren, nämlich streng gesprochen drei Stück, kannte man also den Horst persönlich – und der sagte immer: Weißte Ronald, wenn du mal Schriftsteller werden willst, denn mußte immer gut lernen und det schaffst du schon, aber weißte, son Studium, da soll ja denn auch politisch was für uns rauskommen, und det können wir nich befürworten, ja. – Und da mußte ich dann immer selber Briefe schreiben, und Max Walter Schulz hat mir dann sehr freundlich geantwortet, der damalige Direktor des Literaturinstituts, daß es eben völkerrechtlich so ist, ich bin Ausländer, und mit dem Staat, in dem ich lebe, gibt es keinerlei Abkommen über Studentenaustausch, und es ist gar nicht seine Kompetenz, das zu entscheiden. Und sicher sei das für mich als Kommunist schmerzlich, das einzusehen, aber es sei nun mal leider so. – Und im Mai 86 wurde plötzlich das Kulturabkommen zwischen der DDR und der BRD und Westberlin unterzeichnet, und dann bin ich sofort wieder hin zu allen, und im September 86 habe ich angefangen zu studieren.

Warum wolltest du denn unbedingt nach Leipzig?

Also es gibt drei solche Institute auf der Welt, in Leipzig, Moskau und Ho Chi Minh Stadt. Und mir erschien Leipzig dann doch das nächste.

Dein aktuelles Ziel war also, Schriftsteller zu werden, und du meintest, dazu muß man unbedingt an einem solchen Institut studieren.

Ja, ich war ja längst ein weltberühmter Schriftsteller.

Ach so, ja.

Ich hab ja, als ich neunzehn war, diese überaus erfolgreiche Kleinstadtnovelle veröffentlicht. Also mir gings, um ganz ehrlich zu sein, nicht so sehr um das Studium. Es ging um die DDR.

Also um die drei Jahre, die ja auch gut bezahlt wurden.

Es war nicht das Bezahltwerden. Ich habe in Westberlin nicht schlecht gelebt. Ich habe in einem Loch gelebt, in einem unbeheizbaren dunklen Loch, heute noch haben all meine Bücher so Wasserflecken aus dieser Zeit, alles war feucht, aber es war entsprechend billig, und ich hatte eine Lohnarbeit, die mir wenig Mühe gemacht hat. Ich habe die letzten zweieinhalb Jahre vor Leipzig als Gouvernante gelebt, habe zwei kleine Kinder betreut. Man führt dann das Leben einer Hausfrau, kennt die anderen Mütter auf dem Spielplatz. So. Und wenn mal Streß war, habe ich immer vor mich hin gesagt: zehn Mark die Stunde, zehn Mark die Stunde. Ich kam von der Arbeit, trank einen großen Kaffee und hatte den Kopf frei für den Schreibtisch. Zwei sehr liebe Kinder übrigens, obwohl ich Kinder hasse, aber die beiden hab ich wirklich lieb gehabt. – Ich konnte mir natürlich, und das hatte ich mit dem Großteil der Menschheit gemeinsam, unter diesem Studium in Leipzig gar nichts vorstellen. Ich hatte nur große Ehrfurcht vor dem Institut – sowas legt sich ja dann wieder – , und wußte halt, daß Sarah Kirsch da gewesen war. Das war schon fast das einzige, was ich wußte. Und ich bereue es keine Sekunde, das gemacht zu haben. Man macht sich nicht tot an dem Institut, man hat zwei, manchmal drei Doppelstunden am Tag, das ist auszuhalten. Und warum soll man sich nicht drei Jahre lang jeden Monat sechshundert Mark damit verdienen, daß man, was weiß ich, alle Vierteljahre mal einen Text vorlegt. Also det is wirklich nicht so schlimm. – Die Mitstudenten in Leipzig hatten auch mal son Punkt, wo sie in Versammlungen gesagt haben: Wir lernen hier ja gar 4icht schreiben, sondern der Philosophieunterricht ist so öde, man kriegt alles andere als Lust auf Philosophie, und der Ästhetikdozent ist inkompetent und dumm, und die sogenannten schöpferischen Seminare mögen alles sein, aber nicht schöpfensch – und natürlich hatten sie recht. Aber ich glaube, das ist gar nicht das, was das Institut meint. Das Institut meint eine grundsätzliche Möglichkeit, das hat es übrigens mit dem Sozialismus gemeinsam. Das Konkrete ist natürlich böh. Aber es ist immerhin die Idee, daß man etwas vermitteln könnte, Wissen und Erfahrung. Diese Idee, im Falle des Instituts ist sie theoretisch natürlich unhaltbar, weil, man lernt schreiben nicht durch verbale Mitteilung, das ist nicht die Sorte Lernen, die da geht. Aber das macht ja nischt. Die soziale Auswirkung dieser falschen Theorie ist, daß Leute für drei Jahre aus dem Beruf rausgenommen werden und sehen können, ob sie schreiben werden. Achtzig Prozent beantworten diese Frage dann mit Nein, und zwanzig Prozent mit Ja. Ist doch wunderbar.

Na gut. Du hast dann also nicht mehr nur die Idee erlebt, sondern auch das Konkrete, wie das wirklich passiert hier. Und das hat dich nicht abgeschreckt? Warum nicht? Was war das? Vielleicht war es eine furchtbare Naivität. Vielleicht war es die Sehnsucht nach dem Stalinismus.

Ich finde deine Interpretation sehr einsichtig. Ich verstehe deinen Gedankengang.

Und du willst dich nicht verteidigen?

Nö, da gibts doch nichts zu verteidigen.

Na, wie war es denn für dich? Warum bist du hergekommen?

Ich wollte gerne.

Warum?

Ich finds hier prima.

Wat findstn hier prima?

Och, du bist so nett, und andere Leute sind auch irgendwie ganz nett. Natürlich nicht so nett wie du, aber immerhin.

Da drüben gibts doch auch sehr viele nette Leute.

Das stimmt. Das ist sehr wichtig. Am 1.9.89 hab ich meine Westberliner Papiere abgegeben und bin seitdem DDR-Bürger. Und natürlich, das darf man nicht verschweigen, habe ich Freunde in Westberlin. Die sind natürlich auch am nächsten Wochenende bei mir auf der Matte gestanden und haben mich besucht, und da war auch sicher ein Moment von Traurigkeit dabei, daß ich nun nicht mehr mit denen in derselben Stadt wohne. Aber ich denke, nach solchen konkreten Sachen kann man nicht gehen. Man kann zum Beispiel nicht danach gehen, ob man an dem Ort, an dem man leben will, ein Buch veröffentlichen kann. Am 1.9.89 dachte ich nicht, daß ich in den nächsten zwanzig Jahren in der DDR ein Buch veröffentlichen kann. Und ob ich einem DDR-Buch jetzt näher gekommen bin, das wage ich doch sehr zu bezweifeln. Aber danach kann man nicht sein Leben richten. Man muß sein Leben danach richten, was man selber tun will. Und ich will schreiben, und ich denke, die DDR, ob sie will oder nicht – ganz wichtiger Punkt!: ob sie will oder nicht – , die DDR bringt die besseren Schriftsteller hervor. Und in diesem Ruhm möchte ich mich auch sonnen.

Die Egozentrik.

Die man für diesen Beruf braucht.

Und nun bist du enttäuscht, weil sich hier doch einiges geändert hat.

Ja, diese blöde Freiheit, und diese quatschige Demokratie, furchtbar. Alle plappern sie jetzt durcheinander, und alle freuen sie sich, wenn sie sagen dürfen, Honecker ist doof. Na ja.

In deinem Buch steht, du hättest täglich versucht, in Westberlin den Kommunismus einzuführen. Und das ist ja nun gescheitert. Oder gestehst du das nicht ein?

Ach, es gibt ja doch Kriterien der objektiven Wahrnehmung von Welt, und wir kommen wohl nicht daran vorbei, daß wir nach diesen Kriterien in Westberlin keinen Kommunismus haben. Ich bin also doch offenbar gescheitert. Es scheint so zu sein.

Und dieses Scheitern ist der Anlaß gewesen, hierher zu kommen? Weil du dich der Aufgabe nicht zu stellen brauchtest?

Ja, das ist wichtig! Nicht so sehr das Scheitern, also Scheitern, mein Gott, es ist immer die Frage, was ist Scheitern, gibt es überhaupt ein Nicht-Scheitern. .. In die DDR zu gehen, das ist der Versuch, sich die Welt auszusuchen. Ich hatte zum Westen keine Lust.

Also Bequemlichkeit

Ja, jeder macht es sich so bequem wie möglich.

Wo bleibt denn da der Anspruch? Wenn du dort den Kommunismus einführen wolltest, dann ist das doch ein Anspruch, was zu verändern.

Ah, du denkst, die lohnendste Aufgabe ist die, die keine Aussicht auf Erfolg hat! Das glaube ich nicht.

Welche Aufgabe hast du hier?

Den Kommunismus einführen, natürlich.

Aha. – Die Leute, die aus der DDR in die BRD gegangen sind, die werden in deinem Buch, »Die Tage in L.«, eingeordnet unter dem Stichwort: Das Selbstmitleid Ist das nicht sehr überheblich? Wegzulassen, wie sehr die sich sicherlich mit dieser Entscheidung gequält haben. ..

Entschuldige, daß ich dich unterbreche, aber an dieser Stelle muß ich darauf bestehen, daß ich das schon weiß.

Das habe ich nicht gelesen.

Das hast du nicht aus meinem Buch rausgelesen?

Nein.

Das erstaunt mich.

Zum Beispiel Erfahrungen von Leuten, die vorher im Knast waren.

Ja, da muß ich passen. Das kenne ich nicht. Ich rede natürlich von Künstlern. Ich gründe ja in diesem Buch die Ästhetik des Name-Dropping, ich rede also ausschließlich von Leuten, die man kennt. Einfach, weil Leute, die man kennt, die müssen ja irgendetwas haben, warum man sie kennt, es ist etwas an ihnen dran, etwas Beispielhaftes, etwas Gültiges. Und das versuche ich rauszukriegen, indem ich ihren Namen nenne und versuche, einen winzigen Aspekt ihrer Geschichte zu erzählen. Ich habe Sarah Kirsch in meinem Leben nie persönlich getroffen, leider, und auch Nina Hagen nicht und auch Michail Gorbatschow nicht. Ich hoffe sehr, daß rauskommt, daß ich doch um den Schmerz weiß. Und zu dem Wort Selbstmitleid: Das bin natürlich ich selber. Ich rede immer nur von mir. Diese dreihundert Namen da hinten im Register, das bin ja alles ich, ich bin natürlich Lenin, und ich bin Erich Honecker, und Jutta Lampe bin ich sowieso. Das Selbstmitleid der Dissidenten ist mein eigenes. Und dagegen arbeite ich. Das ist mein Beruf.

Wogegen bist du weggegangen? Was ist die BRD für dich?

Die BRD ist, und daran führt kein Weg vorbei, verrückter, unterhaltsamer, ungewöhnlicher als die DDR. Sie macht eine bestimmte Sorte Spaß. Es ist eine andere Sorte Spaß, die man hier hat. Ich weiß noch, vor Jahren las ich eine Rezension im »Sonntag« zu Bunbury im Deutschen Theater, in den Kammerspielen, ein völliger Verriß: Was soll uns dieses intellektualistische Geschwätz. Da wußte ich, da muß ich reingehen. Und ich hatte das große Glück, das Stück nicht zu kennen und also in dieser Inszenierung von Klaus Piontek erst kennenzulernen. Das war einer der schönsten Theaterabende meines Lebens. Es war so wunderbar. Es war eine Ahnung davon, daß die DDR verrückt sein könnte. Die Schauspieler mit ihren ungeheuren Mitteln, die die nun mal alle so haben, also Ulrich Mühe und Simone von Zglinicki und Käthe Reichel und Gudrun Ritter und Katrin Klein und Michael Gwisdek, und die alle spielten Verrücktsein. Die alle spielten, was sie sich vorstellen unter souveränen, englischen, abgefahrenen Typen. Und sie waren natürlich viel souveräner und viel englischer als jeder Engländer. Weil sie DDR-Leute waren. Das Problem der DDR ist, sie weiß oft gar nicht, wie schön und verrückt sie sein könnte. Und natürlich kann Kunst mehr als das Leben, deshalb ist das Leben ja so öde, aber die da auf dieser Bühne, die konnten das diesen einen Abend lang. Und von dieser Mitteilung zehre ich heute noch. – Westkunst kann etwas ganz bestimmtes. Wir alle lieben Peter Hacks, aber Oscar Wilde, dem sind bestimmte Witze doch mehr im Blut. Der hat einfach ne andere Haltung, weil der verlorene Posten, auf dem der stand mit seiner Klasse, einen Todesmut erfordert hat, der seine ganz eigene Faszination erzeugt. Also die Abendröte, die ist klasse, die gibts halt in der DDR nicht. Und ich dachte mir nun, Abendröte hin und her: Morgenröte, vielleicht gibt es sie ja doch. Na ja, geschnitten. Jetzt haben wir hier wieder ne Abendröte. Also auch schwierig. Man kann sich irren.

Was ist mit der BRD?

Ich kann das nur über Geschichten erzählen. Ich will nicht argumentieren, das ist immer ein Problem von mir.

Aber du hast keine BRD-Geschichte erzählt jetzt.

Doch. Das hast du nur nicht gemerkt. Ich erzähl noch ne Geschichte. Weißt du, wenn ich hier anfange zu argumentieren, dann muß ich so Sachen aus dem Lehrbuch für Wissenschaftlichen Kommunismus erzählen, das mag ich nicht.

Ich auch nicht.

Also. Ich habe Freunde, die machen eine Theatergruppe, die heißt Ladies Neid. Diese Leute treten auf, können damit natürlich kein Geld verdienen und machen Shows, also nehmen sich irgendwelche deutschen Schlager, und dann singen sie die – sie können gar nicht singen – , und dann treten sie auf mit irgendwelchen Perücken und machen so ganz alberne Zwischentexte, und dann spielt das zuerst auf einem Polizeirevier, es hat auch kaum Handlung, und der zweite Teil spielt dann in Ägypten, und dann machen sie sich aus Pappe so Pyramiden, die immer umfallen, also es ist schon arg abgedreht. So. Und das ist, in seiner Art eben, ein gültiger Ausdruck der Zeit. Es ist die Avantgarde. Es läßt sich mit Kriterien politischer Kunstanschauung kaum fassen – ich sage nicht: gar nicht fassen, aber kaum. Man kommt, wenn man das sieht, mit herkömmlichen Kunsttheorien nicht weiter, zumal, wenn sie den Anspruch haben, den Sozialismus zu befördern. Die Texte sind albern, die vorgefundenen Texte in den Schlagern sind sowieso albern, und es ist radikalere Kunst, weit radikalere Kunst als Heinrich Böll. Diese Form der Distanzierung vom vorgefundenen Material – das vorgefundene Material kann die Welt sein, das kann dieser Schlager sein, das kann die Kunstform Revue sein, das kann überhaupt die Form Theater sein, das Auf-eine-Bühne-gehn-und-etwas-sagen, schon das ist für diese Leute eigentlich nicht annehmbar. In dem Moment, wo sie die Bühne betreten, ist das schon Persiflage. Es ist das eine ganz gültige, richtige, sehr sehr komische Form und auf seine ganz merkwürdige Weise vollkommen politisch. Es ist mir, wie du merkst, ganz nahe. Also Witze reißen und die Welt meinen. Und es ist ein Endprodukt. Es ist ein Produkt, ohne daß das irgendwie ausgesprochen wird, das sagt: Das, was wir bisher hatten an Theater, an Kunst, an Wörtern, mit denen man sich möglicherweise ausdrücken konnte, das gibt es alles nicht mehr. Trotzdem haben wir aber ein Amüsement! Und das ist eine ungeheure Stärke. So wie, auf eine ganz andere Art, die Schaubühne natürlich eine Stärke ist, eine Stärke dieser Welt dort. Mein Problem war, ich wollte das nicht machen. Ich hätte, wenn ich mir große Mühe gegeben hätte, irgendsolche Kunst dort mit machen können. Das Problem war, ich wollte nicht.

Hinter deinem Buch steht, glaube ich, ein ganz bestimmtes Gedankengebäude. Du hast ganz offenbar den Anspruch, aus irgendeiner Meinung von der Welt heraus andern Leuten sagen zu können, wie die Welt ist.

Ja, das tut Kunst immer. Daß Kunst das nicht täte, ist eine Illusion. Kunst ist eine Information über die Welt. die Frage ist, welche. Aber natürlich gibt Beckett genauso eine Information über die Welt wie Brecht.

Aber es gibt doch einen Unterschied! Den Unterschied zwischen den Schlagerparodien und Brecht! Das Ziel der Schlagerparodien ist es vielleicht, ein Vergnügen zu bereiten, während bei Brecht der Anspruch besteht, die Leute auf die Barrikade zu treiben.

Nee, tut mir leid. Nein! Auf keinen Fall hat Ladies Neid das Ziel, den Menschen Vergnügen zu bereiten. Es möchte, daß diese Menschen tot umfallen. Oder es möchte, daß das Publikum mit Eiern wirft. Nein! Und ich glaube auch nicht, daß Brecht wollte, daß die Leute aus dem Theatersaal gehen und dort ne Barrikade bauen. Das sind alles Unterstellungen.

Na gut. Versuchen wir es mit der DDR. Was dich gereizt hat, war also deine ganz persönliche Art, dann hier leben zu können. Relativ unbeschwert, und schreiben zu können.

Das ist auch eine Unterstellung. Ich konnte im Westen sehr gut leben, das muß man wirklich immer dazusagen. Ich konnte auch im Westen so leben, wie ich es wollte, weil ich derjenige bin, der dieses Leben führt, und es also so aussieht, wie ich es will. Ich hatte kein Problem mit dem Westen.

Was reizt dich denn an der DDR?

Es ist wirklich ein ganz egoistischer Grund: In der DDR werden die besseren Bücher geschrieben. Und natürlich mache ich den idealistischen Umkehrschluß: Wenn man in der DDR lebt, schreibt man die besseren Bücher. Das ist logisch nicht haltbar.

Und das hast du so als Entscheidung gedacht, oder...

Natürlich.

Oder ist das jetzt deine nachträgliche Reflexion darauf?

Ja, das kann unsereins ja nicht trennen. Weil, wir sind ja Leute, die immer im Bett liegen und denken. Das geht ja dann so Hand in Hand, Reflexion und Tat.

Also ist die DDR für dich auch homogen.

Jaja, sehr homogen, ungeheuer homogen, jaja.

Vielleicht hätten wir uns von vornherein für ein Nonsensinterview entscheiden sollen.

Neinnein, ich finde das sehr gut, wie du das machst, ganz hervorragend.

Ich bin noch SED/PDS-Mitglied, und für mich war die Mitgliedschaft in der Partei immer mit einem Trotzdem verbunden. Gerade weil das die Struktur war, die die Macht ausübt. Für mich war immer ein Denkmodell, daß es im Dritten Reich nicht anders war. Dort hätte auch jeder sagen können: Es gibt ne bestimmte politische Struktur bei uns, und wenn ich in diesem Staat was verändern will, dann muß ich das in dieser Partei tun. Wie siehst du das? War das kein Problem für dich bei der Entscheidung, in die DDR zu kommen?

Ich halte die Parallelisierung der DDR mit dem Dritten Reich für reaktionär und geschmacklos.

Ich habe meine Situation als Modell gedacht.

Ich weiß schon. Als Modell für die Welt. Du meinst auch gar nicht den Faschismus.

Eine Welt, wo eine politische Kraft sämtliche Entscheidung in ihre Struktur hineinverlegt.

Ja, und das hat diese Welt hier mit der ganzen Welt gemeinsam. Das ist im Kapitalismus, zumal im späten, nicht anders. Du mußt dich entscheiden. Ich habe zur Welt ein ganz und gar nicht-moralisches Verhältnis. Ich habe nicht das Problem mit dem Imperialismus, daß da Kinder verhungern. Das ist natürlich schrecklich, daß da Kinder verhungern, aber mein Problem ist, daß meine Kunst schlechter war, als sie hätte sein können. Deine Frage ist: Wie verhält man sich zur Welt? Und ich glaube, du unterschätzt das Maß an Zustimmung, das man einem Ding entgegenbringen muß, um sich überhaupt mit ihm zu beschäftigen. Peter Handke und Botho Strauß strahlen eine Zufriedenheit aus, die ist widerlich. Einfach, weil sie gekauft sind. Zu einem sicher angemessenen Preis, aber sie sind gekauft. Sie sind, und jetzt werde ich mal moralisch, gekauft mit dem Blut der Schwarzen. Die dafür schuften, daß es Peter Handke und Botho Strauß so furchtbar schlecht geht, daß sie andauernd schlechte Bücher schreiben müssen. Weil natürlich geht es ihnen in diesen Büchern immer furchtbar schlecht, also textoffiziell. Das ist aber nur eine Kaschierung dafür, daß es ihnen glänzend geht und daß sie das auch ganz genau wissen. Die sind nämlich sehr zufrieden in ihrem Unglück. – Mich hat an der DDR-Literatur immer fasziniert das Maß an Unruhe. Also daß da überhaupt was war, über das man meckern konnte, zeigte mir, daß die Leute noch nicht völlig verblödet sind. Das kann man auch Utopie nennen. Offenbar ist da was in der DDR, das die Leute dazu bringt, ich rede von den Künstlern, Bewegung überhaupt wahrzunehmen. Das ist für jemanden, der aus dem Westen kommt, schon vollkommen ungewöhnlich. Alles Bewegt Sich!, das ist im Westen eine revolutionäre These. Weil, im Westen lebt man in dem Gefühl: Nichts bewegt sich. Der Endzustand ist erreicht. Und wenn sich was bewegt, dann zum Schlechtern. – Nun sagen mir natürlich die Kinder hier: Det is bei uns ooch so. Und das leugne ich.

Wenn du in diesen globalen Zusammenhängen denkst, dann lebt die DDR doch zusammen mit der BRD und wahrscheinlich allen europäischen Ländern auf Kosten der Dritten Welt.

Das ist das Problem. Die Grenzen sind geöffnet, das heißt, die DDR wird Mitglied der Räuberbande.

Bei dieser globalen Weltsicht, ist es da nicht gleichgültig, wo du dich engagierst, wo du als Schriftsteller lebst? Ist es nicht so, daß du diese Widersprüche im Westen sogar noch viel exemplarischer erleben kannst, auch im täglichen Leben?

Da du mich mit aller Macht zwingst, ernst zu reden – ich hasse es, ernst zu reden... Ich merke, wie billig und abgedroschen die Probleme hier werden, seit Honecker gestürzt wurde. Niemand nimmt mehr ein Blatt vor den Mund – wichtige Fähigkeit – , alle Faschisten dürfen sagen, daß sie Faschisten sind. Man kann sagen, das fördert die Ehrlichkeit, man kann denselben Sachverhalt aber auch mit den Worten ausdrücken, es fördert die Blödheit. Ich kann dir einen Terminplan geben, wann welche Probleme hier auftauchen werden in der DDR. Und jetzt schon, nach diesen wenigen Monaten, öden sie mich an. Ich kenne das. Wir kannten es natürlich alle schon. Also die Schwulen, zu denen ich nun gehöre und wo ich die Probleme ein bissel aufmerksamer ankucke, sie haben natürlich diesen Terminplan auch eingehalten . Natürlich haben sie irgendwann angefangen, Schwulengruppen zu gründen, natürlich haben sie irgendwann angefangen, in die öffentlichkeit zu gehen, natürlich ist die Struktur der Argumentation der Schwulen gleich – alles ein bißchen zeitversetzt, aber vollkommen gleich. Ich liebe die Schwulen, aber ihre Problem öden mich an. Es sind die Probleme der Welt, und ich weiß ja, daß es richtig ist, sie zu lösen, und immer wieder neu, und dann muß man die alten Wahrheiten nochmal sagen, und dann nochmal, und ein drittes Mal auch noch – es ödet mich an. Ich rede so ungern darüber, weil das natürlich heikel ist zu sagen: Das Leben der Leute erscheint mir bekannt, nicht neu, sehr viel weniger einzigartig, als die Betroffenen das selber glauben. Das ist heikel. Diese Behauptung ist auch kaum literaturfähig. Literatur besteht in der Überwindung dieser Behauptung. Übrigens ein Grund, warum Politik kaum literaturfähig ist. Politik ist langweilig. Der Satz, die Revolution muß kommen, ist kaum literaturfähig. Auch, weil jeder weiß, daß er stimmt. Man kann Literatur nicht über ein Thema machen, das unumstritten ist. Jeder im Westen weiß, daß eine Revolution kommen muß. – Also ich spreche ungern darüber, und ich habe ungern die Probleme, die ich schon vor zehn Jahren hatte. Die Welt wiederholt sich. Das ist bedauerlich.

Ja.

Jetzt bist du dran mit Witze machen

Nee, bei solchen Dingen nicht.

Schade.

Vielleicht liegt in der Wiederholung die Chance.

Du bist Jandl-Fan!

Ich rede von Politik. Mich schmerzt zum Beispiel, daß die Linken sich auf die Vereinigungsdiskussion nur mit so großer Angst einlassen. Wir müßten doch Konzepte entwickeln, daß die Rechten Angst vor dieser Vereinigung kriegen. Kann die Wiederkehr des Immergleichen nicht die Chance sein für den Aufbruch, für die Bewegung? Den Versuch, etwas anders zu machen? Neu?

Ich sehe das genaue Gegenteil. Ich sehe, daß genau dieser Versuch aufgegeben wird. Ich sehe, daß mit dem, was die DDR einbringen könnte – es wird mit jedem Tag weniger – , daß damit der Kapitalismus bloß perfekter gemacht wird. Der Kapitalismus ist ungeheuer stark, welthistorisch gesehen sehr viel stärker, als unsere Klassiker dachten, und die Grünen und alles im Umfeld, die Kulturtheorie, die Schwulen, die Subkulturen, der Großteil der Künste und große Teile der Phantasie, sie alle tragen nur dazu bei, daß der Kapitalismus immer noch besser wird. Und er wird ja wirklich besser. Gerade diese verschissene Wiedervereinigung zeigt, wie blöd das Volk ist. Auch das ist ein sehr heikler Punkt, aber ich habe dich gewarnt: Wenn ich ernst werde, dann werde ich ernst. Na, wenigstens an dieser Stelle lachst du. – Noch am vierten November, auf dieser riesigen Demo, hätte ich meine rechte Hand darauf verwettet, daß es keine einzige Person in der Deutschen Demokratischen Republik gibt, die die Wiedervereinigung will. Du hättest mir meine rechte Hand abhacken können. Ich fürchte, man kann dem Volk alles einreden.

Du siehst dich selber als Marxist und sagst gleichzeitig, das Volk ist blöd. Ist das nicht ein Widerspruch?

Wir alle wollen, daß es allen Menschen besser geht. Ja. Das ist der humanistische Impuls. Der ist ja auch richtig, und man ist ja, auch wenn man es immer behauptet, dann doch kein Monster. Ich muß aber sagen, dieser humanistische Impuls in mir ist schwach entwickelt. Natürlich ist man gegen Stalins Lager, und natürlich sowieso dagegen, daß die Negerkinder verhungern, und man ist dagegen, daß Leute andern Leuten eins in die Fresse hauen, sowas. Aber das versteht sich wirklich von selbst. Das ist nichts, worüber ich Bücher schreiben würde. Weil, das weiß ich ja schon. Ich bin Egoist, und ich glaube, ohne sone gesunde Portion Was-wird-aus-mir kann man keine gute Kunst machen. Und Was-wird-aus-mir, das heißt in meinem Fall: Wie kriege ich aus meinem Leben den besten Text raus. Wie schaffe ich mir eine Lage, in der ich am besten produzieren kann. In dieser Welt, heute, weil ich hab nix anderes zur Verfügung. Ich muß die Welt handhabbar machen. Ich muß mir die Probleme aussuchen, die ich mir mache. Wir alle wollen, daß es allen Menschen möglichst gut geht. Aber ich bin nicht Mutter Teresa.

Und nun bist du dem DDR-Volk böse, daß es dir diese Situation, die du dir ausgesucht hattest, beseitigt hat.

Ja, es war eine konzertierte Aktion gegen den Weltgeist. Aber da ich unsterblich bin, nimmt mir das meinen Historischen Optimismus noch lange nicht.


aus: konkret 03/90, S. 58