stefan ripplinger

biographische notiz


die bislang unveröffentlichte notiz wurde am 23. 2. und 3.3. 1992 abgefaßt; ich habe sie leicht überarbeitet.

berlin, november 2000
r.


im sommer 1983 traf ich in westberlin ein. von sogenannten ereignissen voll war dieses erste halbe jahr. wie immer den weg des geringsten widerstandes wählend, begann ich ein studium (zunächst der komparatistik, später, mit größerem interesse, der linguistik). von der universität bald abgestoßen, verlangte es mich nach intelligenz.

einer meiner liebhaber hatte mir RONALD M. SCHERNIKAU (RMS) als den klügsten menschen bezeichnet, den er kenne. in einer disconacht lächelte ich ronald an, er lächelte zurück, ich ging auf ihn zu und sagte: "dein buch habe ich aber nicht gelesen." er lachte herzlich. wir begannen zu plaudern und bald, es war bereits frühstückszeit, lud er mich zu einem kaffee bei sich ein. er wohnte um die ecke, in der großgörschenstraße.

am mittwoch darauf, am 18. januar 1984, sahen wir uns gemeinsam MURNAUs film SUNRISE an. den sex vergaßen wir, wir literarisierten.

beide wohnten wir damals in äußerst schäbigen und kalten parterre-hinterhof-wohnungen. die seine war ebenso geschmacklos eingerichtet wie meine; nicht von schlechtem geschmack, sondern von gar keinem. er entstammte wie ich kleinbürgerlichem milieu, wenn auch seine mutter ungewöhnlich ist; er hat sie selbst am besten beschrieben. wir waren im alltäglichen den einfachen genüssen mehr aufgeschlossen als den delikaten. unsere mahlzeiten waren kläglich. RMS zeigte einen deutlichen zug ins asketische, während es mir, der ich aus katholischer gegend komme, einfallen konnte, mit einem mal das wenige zu verschwenden, was ich hatte.

er kleidete sich sommers wie winters schwarz. in gesellschaft liebte er grelle auftritte. allein war er eher ruhig, ja, er konnte ganz unerwartet verstummen. man mußte ihn dann, oft nach stundenlangen ausgelassenen gesprächen, verlassen.

in vielem stellten wir direkte gegensätze vor. er war früh fertig gewesen. das gerüst seines ungeheuren selbstbewußtseins bildete ein plan, den er verfolgte; ich lernte nach und nach, worin er bestand. meine psychische masse hingegen ist von schwacher konsistenz. obwohl eigentlich mißtrauisch und phlegmatisch, ließ ich mich gutmütig mal in diese, mal in jene richtung ziehen. er hatte längst seine richtung gefunden. in seiner sowohl exzentrischen als auch fixen orthodoxie hatte alles sein gewicht und seine stelle, jede person, jeder ort, noch das geringste geschehnis. er lebte und schuf zur höheren ehre der partei; aber es war dies eine utopische partei.

an diesem gerüst war nicht zu rütteln, diese orthodoxie war nicht zu befragen. er duldete keine diskussionen über politisches, wenn, wie ich oft tat, grundsätze bezweifelt wurden. einmal hatte ich schüchtern in frage gestellt, daß die alte klassendifferenzierung weiterhin nützlich sei. das proletariat diffundierte in ein vermasstes kleinbürgertum, die funktion der kapitalistenklasse erfüllten zunehmend technokraten ohne echte kapitalbeteiligung. solche gedankengänge schnitt RMS scharf ab, etwa mit dem hinweis darauf, daß ausbeutung ausbeutung sei usw.

ich insistierte nie, und so beschränkten wir uns auf nicht-prinzipielle themen oder auf punkte, in denen wir übereinstimmten. er hegte ohnehin eine abneigung gegen theorie; er hatte sie hinter sich gebracht, sie stand in blauen bänden hinter ihm. RMS war ganz und gar nicht ein dialektiker. er haßte negation.

war es meine schwierigkeit, mich nicht festlegen zu können, so war es, auch wenn er das selbst nicht so empfand, seine, sich durch festlegungen fixiert zu haben. er konnte schwer aufgeben oder revidieren, auf was er sich einmal eingeschworen hatte. das machte ihn unfähig zum opportunismus - ich nenne seine rede vor dem letzten ddr-schriftsteller-kongreß; was sich früher in der brd für opposition hielt, nun aber staatskonform wurde, zeigt nicht einmal spuren der widerstandskraft, die RMS dort bewies -, das beschränkte aber gleichzeitig die objektiven möglichkeiten seiner intelligenz. neues konnte nur adaptiert werden, wenn es dem alten verträglich war.

er las in verblüffender geschwindigkeit unmengen von büchern, broschüren, zeitschriften, aber immer nur, um sich zu ergänzen. ich nahm quälend langsam auf, wankte, trat hierhin, zog mich zurück, trat dahin. trotz aller unsicherheit glaubte ich immerhin, als wir uns kennenlernten, meinen literarischen fixpunkt gefunden zu haben - die wiener avantgarde der 50er jahre. sie ließ RMS völlig kalt, das dandyistisch-formale stieß ihn ab, er vermißte wohl inhalte, als ob es hier keine gäbe. an GERTRUDE STEIN mochte er vermutlich die stilisierung der person, ANDY WARHOLs kunst motivierte er politisch. diese waren also, neben WITTGENSTEIN, gemeinsame leidenschaften, wenn auch aus ganz gegensätzlichen gründen.

seine starke affinität zur ddr-literatur blieb im gegenzug mir unbegreiflich. noch vom unbedeutendsten talent dieser literatur kannte er restlos alles. von seinen helden HACKS, MORGNER, S. KIRSCH usw. sammelte er im lauf der jahre noch die nebensächlichsten äußerungen. er trieb einen albernen geniekult.

RMS vervollständigte ein mosaik, dessen zeichnung lange schon erkennbar war. er legte sich unermüdlich patiencen. wie in einer selbstreferentiellen welt nicht anders zu erwarten, gingen sie immer öfter auf. seine beharrlichkeit war mir ein wenig unheimlich. ich bewunderte sie als etwas mir unerreichbares. er reichte seine teils spröden, teils forschen arbeiten ein. man vertröstete ihn, wies ihn zurück, druckte mal etwas in einer abgelegenen zeitschrift. seine äußere erfolglosigkeit entmutigte ihn nicht im geringsten. obwohl wir zu dieser zeit keinen sehr engen umgang miteinander pflogen, schien mir, daß selbst der zusammenbruch der ddr ihn nicht beirren konnte, der doch, nach allem was ich weiß, den zusammenbruch der welt bedeutete, in der er leben wollte. denkbar wäre, daß erfahrung der welt und vorstellung von ihr zu entkoppeln waren.

ich las seine neuen sachen, kommentierte sie. unsere freundschaft klappte, weil ich ihn als dichter schätzte, er mich als literarischen freund. sie beruhte darauf, daß ich seine scharf konturierte persönlichkeit anerkannte, aber gar nicht sehr interessiert daran war, mir selbst eine zu schaffen. er duldete meine schwerfälligkeit, ich sein primadonnentum. unsere freundschaft war amüsant, reich und anregend, wenn wir unter uns waren; kamen andere hinzu, verlor sie - für uns beide - an kraft und wert.

den ort, aus dem ich kam, hatte ich nicht besonders gemocht, westberlin aber haßte ich von anbeginn. ich nahm eine gewisse kälte und fremdheit zum aufenthalt, ich fühlte mich in meinen kleidern nie wohl. anders er, er suchte die umwelt, die ihn zugleich bestätigte und hervorhob.

RMS war in der schwulenszene heimisch gewesen. dort brillierte er, seine scharfzüngigkeit bewies sich im kreis von schwulen, sie vor allen wußten seine stilisierungen, ja selbst seine arroganz zu goutieren. natürlich wurde er auch angefeindet, aber das erschöpfte sich meistens in sticheleien, kleinen boshaften wettbewerben und spielen. den ernst hielt man draußen. hier sprach man monate nicht miteinander und lag sich dann wieder in den armen. ich mochte die tunten sehr, auch ronald als tunte.

mit der ihm eigenen energie hatte er es durchgesetzt, daß er in leipzig studieren konnte. wir sahen uns von ende 1986 an seltener. auf meine briefe antwortete er mit liebenswürdigen karten. er sprach in einigen der radiosendungen, die ich, u.a. mit HERMANN BOHLEN, im kleinen RADIO 100 veranstaltete.

sein später als DIE TAGE IN L. veröffentlichtes skript habe ich mehrfach gelesen. ich schätze es sehr. der ursprüngliche titel lautet DIE SCHÖNHEIT VON UWE, DIE LOSUNG 43 UND DER SPAß DER IMPERIALISTEN. RMS überlegte eine zeitlang ernsthaft, ob er sich nicht im letzten moment der veröffentlichung widersetzen sollte, nachdem der verlag auf einer kürzung des titels bestanden hatte. RMS war zur kooperation mit fast jedermann bereit, solange man nichts änderte; zensur wies er gelassen ab. da der KONKRET-verlag beinahe alles außer dem langen titel bringen wollte, stimmte RMS schließlich zu. nicht nur die RAF ist der ansicht, daß dies buch weiterhin gültiges über die ddr bzw. ihren widerpart sagt.

wir hatten verabredet, uns am 15.3. 1990 in seiner hellersdorfer wohnung zu treffen. doch in der nacht zuvor hatte ich schwer gekokst, ich konnte mich kaum mehr bewegen und hatte keinen pfennig, um ihm zu telegrafieren; ich versetzte ihn. einige tage später telefonierten wir miteinander und er fuhr mich grob an, ich hätte ihm arbeitszeit gestohlen.

sein ton verletzte mich. ich schrieb ihm einen bitteren brief. seitdem war nichts mehr wie zuvor. er bat mich wochen später zu sich, aber weder er noch ich hatte lust, über den vorfall zu sprechen. ich besuchte ihn auch im krankenhaus. im frühjahr 1991 haben wir uns zusammen ANDY WARHOLs wunderbaren film HENRY GELDZAHLER angesehen. wir telefonierten noch zweimal im sommer miteinander. von ronalds tod im herbst habe ich erst erfahren, als er schon beerdigt war.

ich denke heute manchmal, vielleicht muß man, um ein werk abrunden zu können, ein vollständiger mensch sein, wie ronald.