1.
Schernikaus Talent stand von Anfang an fest. 1980 erschien kleinstadtnovelle. Der erste Satz ist ich habe angst und der letzte ich umarme euch. Und tatsächlich ging Schernikau damals noch aufs Gymnasium.

2.
Der Schule entspricht die Erfahrung, die Episode, das Wissen. Ganz unschülerhaft gleich der Griff zur Wirklichkeit: wie eine Katze, mit größter Selbstverständlichkeit, schleichend, schmeichelnd, mittendrin und, wenn ertappt, höchst unschuldig.

3.
b., der Ich-Erzähler, liebt leif, den schwankenden Bisexuellen. Nach einiger Sehnsucht b.s finden sie abrupt zueinander, leif gerät in Panik, denunziert b. als Verführer, leifs Eltern fordern Genugtuung, b. wird der Schule verwiesen und verlässt die Kleinstadt nahe Hannover. Ein Brecht-Gedicht ("liebeslied aus einer schlechten zeit") stellt das Motto, darin es um Sex geht zwischen zweien, die sich nicht lieben und fremd sind und fremd bleiben, was aber zur Geschichte nicht passt.

4.
Tappsigkeiten hat das Buch und gute Scherze. Und Colorit aus dem Selbstverständnis als Schwuler. (Gattungsgeschichtlich mag der Text eine der allerersten Coming-out-Geschichten sein, das ist rühmenswert und aber vollkommen nebensächlich). Scherze wie die heteros werden auch immer weibischer. Tappsigkeiten wie einer bärtig, dauerwellig und pluderhosig, der andere kurzhaarig, spitzschuhig und sonstnochwasig.

5.
Wäre dieses Buch eine Coming-out-Geschichte, wir dürften hier Schluss machen. Wir läsen ein typisch schwules aufsteigerbewußtsein, das in der Lage ist, seine Probleme als Probleme der Anderen zu verorten, das seine Extravaganzen katalogisiert, um deren Entstehung durch die Gesellschaft zu bestimmen, das Alltagsstrategien durchschaut, auch die eigenen. Ein Bekenntnisbuch, ein gelungenes.

6.
Die aufsteigerbewußtsein-Stelle heißt im Ganzen: b. hat durch die nichtachtung der welt gelernt, sich selbst zu überschätzen, ich als mittelpunkt der welt: ein typisch schwules aufsteigerbewußtsein. Was ist an das ich als mittelpunkt der welt typisch schwul? Das ist, wo es glückt, eigentlich typisch Genie.

7.
Schernikaus Hauptsorge des Jahres 1980 war nicht, schwul zu sein. Das triebschicksal eines Menschen ist von den ihn bestimmenden materiellen Voraussetzungen keine der unwichtigen, und was Schernikau aus seiner Situation macht, ist zweifelsohne großartig durchdacht und wunderbar politisch. Aber was ihn so zerschlägt, was so zerrt, findet sich nicht in den Argumenten, die, wie gesagt, alle erstklassig sind, sondern in der Sprache, wo das Wichtige hingehört. Vor die Benachteiligung und Belastung als Schwuler tritt ein Staunen über die Bevorrechtigung als Kopf, der anders sehen und sagen kann, respektive: der sehen und sagen kann. Gemessen an der Menschheit ist das Genie immer eine Deformation. Wie sich diese Deformation erklären, wenn man 19 Jahre alt ist und schwul? Am besten so: Ich bin schwul. Das Genie zeigt sich darin, dass es sich darin nicht erschöpft.

8.
leif heißt b.s Liebhaber. Ist erlaubt, leif auszumachen als (engl.) life = Leben? und ohne illusion: kein leben reicht, durch verhältnisse zu greifen, sie zu ändern allein.

9.
andere besprechen ne gürtelrose, wir besprechen n gedicht. Wie muss sich einer, der mit 19 solches denkt, fühlen, während er in der Kleinstadt bei Hannover aufwächst? hallo! sagt b. beim eintreten: ich möchte ne jeans, die gut sitzt und vor allem billig ist. die verkäuferin sagt: das wollen alle. na fein, freut sich b., bei dieser nachfrage muß das angebot ja überwältigend sein!. Nicht einmal Karl Marx hatte mit 19 solche Gedanken. (Allerdings konnte der mit 19 kaum den Karl Marx gelesen haben).

10.
Schernikau hat in kleinstadtnovelle seine Welt von 1980 ganz durchmessen und alles, was da ist, gesagt. Die Welt passt auf 68 Seiten. War sie nicht größer? Bestimmt wäre mehr zu sagen, aber nicht mehr gleich Gutes. Schernikau braucht nur wenig Seiten, wo andere Bibliotheken brauchen. Außerdem, bitte, es ist die Welt eines Schülers, und die ist auch bei einem genialen Schüler entschieden kleiner als bei einem Erwachsenen. die zukunft wird geboren in einer realität, die uns nicht atmen läßt. Nur ist es wesentlich Schernikaus Zukunft, die geboren wird, und wir sind es, denen die Luft wegbleibt. Vom leif zurückgestoßen, beschließt b., dass die Kleinstadt zu klein geworden ist (Eine Unterströmung: leif heißt mit Nachnamen garrett; Leif Garrett war in den 80ern irgendein süßlicher amerikanischer Schlagersänger; the garrett meint Dachstube, Bodenkammer; she kept us hidden in the garrett, singt Leonard Cohen über flüchtige Maquisards), beschließt, die Kleinstadt zu verlassen, die türen zu tausend subkulturen stehen offen, also nach Berlin, subkultur, tanzen.

11.
Auch in "Die Leiden des jungen Werther" geht der Held am Ende tot, aber es war nicht Goethe, der sich erschoss. Wenn Schernikau sagt subkultur, dann müssen wir nicht weinen. Dazu ist sein Deutsch zu gut.



Ronald M. Schernikau, kleinstadtnovelle, Rotbuch Verlag Berlin, Westberlin 1980, 68 Seiten. - vergriffen -

Auszug aus: André Thiele, Regiment Weimar Kürassier. Einführung in das Werk des Dichters Ronald M. Schernikau. Prolog und Erster Teil, in: junge Welt vom 1. Dezember 1999, S. 12.

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