Tjark Kunstreich

Momentaufnahme

Zu Ronald M. Schernikaus kleinstadtnovelle


kleinstadtnovelle: Ein junger Mann verursacht einen Skandal, weil er sich dafür schämt, von einem anderen jungen Mann verführt worden zu sein. Es wird einiges versucht, letzteren zum Opfer einer Kampagne und zum Objekt dieses Skandals zu machen, aber jener bemerkenswerte junge Mann lässt sich nicht zum Opfer oder zum Objekt machen. Obwohl es der junge Mann ist, der nun von sich weiß, dass er schwul ist, der am Ende weggeht, ist es die Kleinstadt, die scheitert. Die Provinz bleibt Provinz, der junge Mann aber wird in Berlin zum Prinzen.

Weil das Wort Novelle schon im Titel erwähnt wird, meinten einige Rezensenten, Schernikaus Prosa sei eine Coming-out-Geschichte: Für sie war das Bekenntnis des Ich-Erzählers zur Homosexualität jenes außergewöhnliche Ereignis, das eine Novelle auszeichnen sollte. Andere mögen solche Rezensionen davon abgehalten haben, sich von Schernikaus Qualität überzeugen zu lassen: Homosexualität war 1980 noch ein Politikum. Zugleich war das Interesse ungleich größer. Und es gab sie noch, die Verbindung zwischen Linken und Schwulen. Schernikau schreibt kleinstadtnovelle zu einer Zeit, da die DKP noch Schwule und Lesben aus ihren Reihen ausgrenzte, zugleich aber intern heftig darüber diskutierte, wie denn mit dem vorgeblich emanzipativen Potential, das diese Minderheit in den Augen der Linken darstellte, umzugehen sei. Allein, dass er schwul war, machte Schernikau damals interessant, dass er ein jugendlicher Kommunist war, der sich auszudrücken wusste, machte ihn noch ein wenig interessanter. kleinstadtnovelle ist eine Momentaufnahme einer Konstellation, wie sie vorher und nachher nie mehr existieren sollte. Hier schreibt einer, der diese Konstellation an seiner Person vorführt. Er tut dies als Person über den Moment hinaus, in seiner Literatur über den Tod hinaus. kleinstadtnovelle ist der Anfang.

Warum ist kleinstadtnovelle eine Novelle? Das außergewöhnliche Ereignis in einer Novelle ist meistens entweder, wie bei Kleists Erdbeben in Chili, eine Naturkatastrophe, oder aber eine äußere Bedrohung durch andere Menschen, wie in Stefan Zweigs Schachnovelle. Seltener hingegen, weil es hierfür die Form des bürgerlichen Entwicklungsromans gibt, jedoch wird ein innerpsychisches Ereignis wie ein Coming-out zum Thema der Novelle; Schernikaus erstmals 1980 erschienenes Buch ist aber auch kein innerer Monolog, sondern im strengen Sinne eine Novelle. kleinstadtnovelle lebt von der dichten Beschreibung, vom raschen Wechsel der Erzählperspektive, von einer genau durchdachten Dramaturgie. Aber die Homosexualität des Ich-Erzählers scheint nicht der Klimax der Novelle zu sein, weil von ihr das ganze Buch über und in vergleichsweise großer Selbstverständlichkeit die Rede ist. Schon Schernikaus Erzählhaltung spricht dagegen. Die Coming-out-Bücher jener Zeit erzählten in der Tradition schlechter Frauenliteratur die Geschichte vom Leid der Bewusstwerdung, von scheinbar unlösbaren inneren und äußeren Konflikten, von Selbstverletzung und Suizid über Vergewaltigung und Missbrauch zu Mord und Totschlag; ermutigend im eigentlichen Sinne waren sie nicht, sie waren Passionen, nach deren Lektüre ich mich regelmäßig fragte, ob ich wirklich schwul sein wollte. Auch deswegen war kleinstadtnovelle eine Offenbarung; die Außenseiterposition ist ein Privileg, sie ermöglicht einen anderen Blick als den am Ausschluss leidenden. Die Geschichte, wäre sie im Ton jener Jahre verfasst gewesen, hätte genau diese Perspektive auch erlaubt: Junger Mann verliebt sich unglücklich, oh Schreck, in einen anderen jungen Mann; als es ernst wird, Jammer, Jammer, wendet dieser sich vom anderen ab; und die schreckliche Kleinstadt, schnief, heul, macht eine Hexenjagd daraus, buhääää!, und am Ende wird der arme Schwule, der nicht dazu gehören darf, auch noch vertrieben. Ein weiteres unschlagbares Beispiel für die Ungerechtigkeit und Gemeinheit der Welt als solcher. Ein solches Buch hätte sich sicherlich noch besser verkauft als kleinstadtnovelle. Aber dass sich das Buch so gut verkaufte, spricht für den Moment, in dem diese andere Perspektive hat eingenommen werden können: „der durchschnittliche schwule hat ein gesicht wie eine sitzengelassene frau. er ist getreten worden, seit sich seine kindesbeine behaarten: nicht nur massenmedien arbeiten daran und eltern, auch psychiater. und wenn der stern schreibt, nicht alle homosexuellen üben analverkehr aus, dann ist das das retten einer ehre, die nicht existiert."

Die Enttäuschung zwischen Schwulen und Linken war beiderseitig, die Schwulen waren gar nicht so emanzipativ wie erhofft, die Linken bewiesen, dass ihre Erkenntnisfähigkeit nur so weit ging, wie die Schwulen als Agitationsfeld interessant waren. Linke Schwule machten in Bürgerrechte, schwule Linke wandten sich angewidert ab. Schernikau, der die Anfänge dieses Prozesses erlebte, machte beides nicht mit. „schreiben, schwul sein, kommunist sein" waren nicht drei Gegensätze, sondern jedes für sich eine Bedingung des je anderen. Es hat also eine Zeit gegeben, in der das möglich war. kleinstadtnovelle erzählt von dieser Möglichkeit, aber schon in großer Abgeklärtheit. Linkssein konnte auch in der Kleinstadt jeder, der sich rechtzeitig die Haare schneiden ließ. Schwulsein nicht, und doch war dieses scheinfortschrittliche Milieu fortschrittlich genug, diese Möglichkeit zur Literatur werden zu lassen. Wenn sie gewusst hätten, welche Natter sie da nährten: den prospektiven Autor von legende. Behandelt kleinstadtnovelle das Coming-out in der sozialliberalen Provinz? Ist ihre Neuauflage Retro-chic? Das wäre Grund zu tiefer Traurigkeit. Ginge es nur um das Coming-out in einer ära des westdeutschen Wohlstands, danke, dann reichte keine literarische Mode, die Wiederveröffentlichung zu rechtfertigen. Es geht ums Schwulsein, aber es geht nicht um irgendein Schwulsein; es geht ums Linkssein, aber nicht um irgendeine Identität ­ es geht um einen anderen Entwurf. Der Protagonist b. möchte kein Linker mit wechselnden Bekenntnis-Plaketten sein, kein Schwuler, der sich beklagt und leidet. Das ist das Ereignis, dass die Geschichte nicht als Passion erzählt wird, dass hier einer einen Weg sucht, der jenseits der Angebote der Kleinstadt liegt: „denn b. tut alles, die elegante lösung zu vermeiden."

Weil es sich um eine Momentaufnahme von großer Dichte handelt, erfüllt sich der Anspruch an die Novelle, einen zeitlosen, d.h. immer aktualisierbaren Konflikt zu behandeln. Indem Schernikau die Zukunft ins Visier nimmt, weil er der Gegenwart misstraut, gelingt ihm die Abrechnung mit der Toleranz der Kleinstadt, der sich der Protagonist nicht zu unterwerfen gedenkt, umso gründlicher. Letztlich ist er es, der die Verführung, von der nicht gesprochen werden soll, ins Licht jener öffentlichkeit bringt, die selbstverständlich nichts gegen Schwule hat. kleinstadtnovelle ist auch deswegen zeitlos, weil sie schon 1980 unzeitgemäß schien.

"ich könnte heulen, daß ich frei bin", sagt der Ich-Erzähler am Ende.


aus Volksstimme Wien