Schatzsuche im Labyrinth

Ronald M. Schernikaus Hauptwerk LEGENDE ist in einer kommentierten Neuausgabe erschienen

Kai Köhler

Die erste Wahrnehmung: schwergewichtig. Noch nicht inhaltlich (das merkt man später), sondern zunächst physisch. Schon der Erstdruck hatte knapp 850 Seiten, die um Kommentar und Nachwort ergänzte Neuausgabe 1070. Man schlägt den Band auf und sieht auf fast jeder Seite zwei eng gedruckte Spalten. Vor jedem Satz steht eine Zahl, und alle ein oder zwei Spalten steht eine große Zahl, von der an die Sätze wieder von 1 an nummeriert sind. Woher kennt man das noch gleich? Aus einem ähnlich umfangreichen Buch, der Bibel. Nach dem Muster: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (1. Mose, 1,1)

Und blättert man ein wenig, trifft man auch gleich auf Götter (immerhin als Mehrzahl). Was suchen die hier? Man hat doch das Hauptwerk eines kommunistischen, schwulen Dichters zur Hand genommen. Der Anfang mag helfen. Die Sätze bilden Kapitel, die Kapitel Bücher, aus mehreren Büchern besteht ein Teil, und von denen gibt es zehn – so ist das in der LEGENDE. Manche Teile sind hunderte von Seiten lang, der erste aber – betitelt DIE GÖTTER - umfasst kaum mehr als eine Spalte. An deren Beginn erfährt man: „die welt ist einfach. das ist furchtbar und schön. die götter wohnen in großen, hellen räumen. die götter sind freundlich. das ist ihr problem. weil die götter freundlich sind, müssen sie zurück auf die erde.“

Eine Umkehrung der Bibel, wo die Welt anfangs „wüst und leer“ (1. Moses 1, 2) war und noch kein Licht; dazu eine Art „Vorspiel im Himmel“, mithin eine Anspielung auf Goethes „Faust“. Das markiert den Anspruch: Die LEGENDE ist nicht irgendeine Geschichte, sondern soll das Ganze der Welt erfassen. Und es deckt zumindest einen Teil von Schernikaus Vorgehensweise auf. Er nutzt die Erinnerung an frühere Dichtungen, um dem eigenen Schreiben eine geschichtliche Dimension zu geben. Dabei geht es nicht um Museales. Das Frühere wird für die Gegenwart anverwandelt, produktiv gemacht, oft auch umgestülpt.

Fülle der Welt

Das lässt an Brecht und dessen Umgang mit historischem Material denken; tatsächlich greift schon das Motiv der Götter, die für die Menschen auf die Erde hinabsteigen, Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ auf. In den folgenden Teilen begnügt sich Schernikau nicht mit Bezügen auf Dichtung. Es finden sich Zitate aus wissenschaftlichen Texten, aus imperialistischer Propaganda, aus kommunistischen Analysen. Dieser li­ter­arischen Untergrundtaktik entspricht das Interesse an Schriften über den Guerilla­krieg. Che Guevara spielt eine große Rolle, auch Carlos Marighella, der Theoretiker und Praktiker der Stadtguerilla gegen die brasilianische Militärdiktatur in den 1960er Jahren.

Aber dann auch: Schlagertexte, triviale Unterhaltung. Und Kinofilme – in einem längeren Abschnitt skizziert Schernikau Szenen, so: „marlene dietrich, wie sie sich die lippen anmalt, eine halbe minute, bevor sie erschossen wird.“ Das Beispiel zeigt, dass die Kenntnis dessen, was Schernikau kannte, zwar von Vorteil ist, aber nicht notwendig. Man muss das nicht gesehen haben, denn die Sprache vermittelt eine Vorstellung von der Kinoszene, die dadurch literarisiert wird. Die LEGENDE zu lesen, in der Schernikau unendlich viel an Vorlagen verarbeitet hat, erfordert wenig Schulwissen. Nötig dagegen sind Geduld, Konzentration sowie Interesse an der Welt und an der Frage, wie die zu verbessern geht.

Hilfreich ist auch die Fähigkeit, Text zu hören; ihn laut zu lesen hilft oft. Um die Totalität der Welt zu erfassen, verwendet Schernikau verschiedenste Genres, vom wissenschaftlichen Zitat bis zu einem Abschnitt mit seinen Lieblingswitzen, und das ganze Deutsch, von den Höhen philosophischer Theorie und konzentrierter Dichtung bis zur Verwertung von Comic-Sprache. Der Herr Verwaltungsleiter Willing, das Schwein, wird selten genannt, ohne dass noch ein oink oink angefügt würde. Andererseits wandelt Schernikau Alltagssprache ins bewusst Künstliche um: Der Teil VII, eine Einlage mit dem Titel IRENE BINZ, DIE FRAU IM KOFFERRAUM, beruht auf einem Interview, das behutsam in Verse gesetzt wurde.

Dieser Teil bringt eine traurige Geschichte, sie ist autobiographisch: 1966 ließ sich Schernikaus Mutter, obwohl überzeugte Kommunistin, von ihrem Geliebten dazu überreden, ihm aus der DDR in den Westen zu folgen. Die verbotene Fahrt gelang, mit dem sechsjährigen Ronald kam die Mutter in die Bundesrepublik. Wenige Stunden später folgte die Desillusionierung: Der Geliebte hatte sich bereits eine neue Lebensgefährtin zugelegt. Zweifach betrogen, musste sich Ellen Schernikau in einer Gesellschaft einrichten, die sie ablehnte und in der sie sich fremd fühlte.

Vierzehn Jahre später befragte der Sohn sie zu den Ereignissen und zu den Unterschieden zwischen Ost und West. Daraus entstand zunächst eine – erst nach Schernikaus Tod veröffentlichte – Prosafassung. Diese Geschichte später in Versen zu verarbeiten, ist keineswegs Dichterspleen. Vielmehr markiert es (zusammen mit dem neuen Namen der Hauptperson) den Übergang zur Kunst. Auch verleiht es der Berichterstatterin eine Haltung, eine Form von Würde, und stellt damit eine Souveränität wieder her, die im Moment des Geschehens bedroht war. Selbst das Schlechte will Schernikau schön sagen. Damit steht er im Gegensatz zu einem Naturalismus, der das Miese der Welt mies wiederholt. Es geht auch nicht andererseits um Verklärung, sondern darum, die Welt zu bejahen, um sie verändern zu können.

Zugänge

Aber kommt die Fülle in eine Ordnung? Das Inhaltsverzeichnis ist umfangreich, hilft aber kaum für einen ersten Zugriff. Man erfährt die Titel der zehn Teile, die Titel der Bücher, und dass es, neben IRENE BINZ, weitere Einlagen gibt. Manche sind eigenständige Teile, wie die Nr. IX, das Theaterstück DIE SCHÖNHEIT. Manche Einlagen sind Bücher, wie die Nr. 13 im Teil VI, DAS HOHELIED DES PFÖRTNERS, wo Schernikau eigene Gedichte zusammengestellt hat. Zu den Ein­lagen steht im Inhaltsverzeichnis noch ein spöttisch formulierter Hinweis: „die einlagen sind einlagen und können, ohne daß der fortgang der handlung berührt wird, bei nichtgefallen herausgeschnitten und an den autor zurückgesandt werden.“

Die Bemerkung weist auf einen möglichen Umgang mit dem riesigen Werk hin. Manche Leser der Erstausgabe haben sich nicht von der ersten bis zur letzten Seite hindurchgearbeitet, sondern einzelne Teile herausgegriffen, oder nur Bücher, oder einige der so zahlreichen wie prägnant formulierten Erkenntnisse zu Kunst, Politik oder Leben und Tod, die sich auf fast jeder Seite finden. Eine Strategie der Auswahl ist in diesem Fall aus zwei Gründen legitim. Zum einen handelt es sich um ein trotz seines Umfangs außerordentlich dicht geschriebenes Buch. Liest man das Ganze in einem Zug, so droht die Gefahr, dass ein Gedanke den anderen verdrängt. Dagegen kann man es als Brevier nutzen, es jeden Abend irgendwo aufschlagen und stets um eine Erkenntnis bereichert einschlafen. Zum anderen ist es mit dem „fortgang der handlung“ nicht eben weit her. Einen Ablauf gibt es zwar durchaus; doch würde er kaum über knapp tausend Seiten tragen. Vielmehr bietet er Anlass zu kleinen Szenen und zu Reflexionen.

Was geschieht?

Die Handlung, fasst man sie zusammen, klingt absonderlich. Vier Götter steigen auf die Erde hinab. Es sind vergöttlichte Menschen: Stino steht für Max Reimann, Fifi für Ulrike Meinhof, Tete für Klaus Mann, Kafau für Therese Giehse. Sie repräsentieren kommunistische Realpolitik und terror­istischen Aufstand, Dichtung eines Homosexuellen, Kunst als Theaterspiel. Was ist mit der Erde geschehen, dass sie keine Menschen mehr hervorbringt, die zu Göttern werden können? Der Teil der Erde, durch den die Götter laufen, in dem sie die Menschen ermutigen, wo sie schließlich selbst einen Aufstand versuchen, ist die „insel“. Konkret ist das in dem ab 1983 entworfenen Werk Westberlin, das zwar von keinem Meer, aber von dem sozialistischen „land“ umgeben ist; doch steht die Insel auch für die Zustände im Kapitalismus überhaupt.

Das „land“ repräsentiert Herr Lange, an Frieden und wirtschaftlichem Austausch orientiert. Damit zeichnet Schernikau die Politik der friedlichen Koexistenz nach, mit der die sozialistischen Staaten wohlbegründet einen Atomkrieg und damit das Ende der Gattung Mensch vermeiden wollten, die aber auch zu Illusionen über die Möglichkeit eines Miteinanders von Sozialismus und Kapitalismus führte. Schernikau zeigt das Friedensideal wie auch die Gefahr, dass der Sozialismus sich übervorteilen lässt.

Hat Herr Lange noch eine gewisse nachvollziehbare Psychologie, so gilt das kaum für die Kapitalisten, mit denen er es zu tun bekommt. Da gibt es den Schoko­laden­fabrikanten Anton Tattergreis, der später eine Karriere als „sozialer kanzler“ macht – das Soziale seiner Kanzlerschaft besteht jedoch vor allem darin, dass er die für unabwendbar erklärte Demontage des Sozialstaats zu bedauern vorgibt. Als Nachfolger wünscht sich Tattergreis den von ihm geliebten Janfilip Geldsack, dessen Vorname auf Jan Philipp Reemtsma verweist. Wie Reemtsma löst sich Geldsack von seiner Klasse, deren Perspektivlosigkeit er erkennt. Wie das Vorbild kokettiert er jedoch allenfalls mit kommunistischer Politik. Vielmehr betreibt er so eifrig wie erfolglos seine Selbstvernichtung, die daran scheitert, dass ihm alles gehört.

Eine Zeitlang konzentriert sich die Handlung auf ein Krankenhaus, wo der Verwaltungsleiter Willing oink oink sein Unwesen treibt. Die Götter entführen in einer Stadtguerilla-Aktion Anton Tattergreis und verstecken ihn dort. Das Unterfangen scheitert jedoch. Mit dem Krankenhaus schildert Schernikau die Arbeitswelt, die verfluchte, mit ihren Anstrengungen und miesen Machtspielen, aber auch mit ihren Sinnangeboten. Wer einen Arbeitsplatz hat, besetzt eine soziale Position, hat Beziehungen zu anderen, fühlt sich also lebendig. Schernikau lässt sich selbst als der „neffe von ulla“ in seinem Buch auftreten und weist sich im Krankenhaus die Rolle des Pförtners zu: der am Ein- oder Ausgang sitzt, vielleicht den Überblick hat und alle kennt, ohne doch an den Vorgängen drinnen beteiligt zu sein.

Und entsprechend ist auch die Schilderung. Es gibt Vorgänge (sogar sehr viele), es gibt Konflikte. Doch bei allem, was geschieht, kommt es nie zu einem Spannungsaufbau à la „In aller Freundschaft“. Schernikau seziert menschliche Haltungen, und zwar mit äußerster gedanklicher und sprachlicher Präzision. Daraus entsteht ein mikroskopischer Blick, der von der Handlung ablenkt.

Die Wirkung ist paradox. Gerade indem Schernikau jede Regung seiner Figuren plastisch macht, entziehen sie sich der Anschaulichkeit. Das soll keinen Fehler benennen, sondern auf einen dialektischen Widerspruch hinweisen. Literarische Figuren werden in dem lebendig, was sie tun. Eine traditionelle Schreibweise stellt dieses Tun plastisch dar, indem sie weglässt, was gerade nicht notwendig ist. Die Figuren – die Besonderheiten im Ganzen des Werks – leben also, indem sie dem Verlauf des Ganzen angeglichen werden. In der LEGENDE hingegen stattet Schernikau seine Figuren mit so vielen Details und Gedanken aus, dass er sie scheinbar aufwertet. Doch gerade dadurch sieht man sie wie in Zeitlupe.

Die Zeitlupe aber entpersönlicht. Dies – und nicht der Umfang des Buches – dürfte das Hauptproblem bei der Lektüre sein. Man erfährt ungeheuer viel; all das wird auch konkret. Die Fülle des Konkreten aber strengt an und führt zum Versuch, die Einzelheiten sogleich durch Abstraktion zu ordnen.

Die Partei

Der Versuch, die Handlung zusammenzufassen, führte doch wieder auf eine Analyse der Schreibweise und ihrer Wirkung. Das liegt sicherlich an der Schreibweise der LEGENDE. Schernikaus Realismus besteht nicht darin, das Gemachte der Literatur zu verdecken und das Beschriebene als natürlich zu übermitteln. Vielmehr hebt er Seite für Seite hervor: Dies ist Kunst, bewusst gestaltet (es könnte also auch ganz anders sein, die Welt ist veränderbar).

Kunst freilich verweist auf Realität, und wesentlicher Bestandteil von der ist für Schernikau, der Mitglied der DKP und danach seit seinem Umzug nach West-Berlin der SEW war, die Praxis der kommunistischen Partei. Die LEGENDE zeigt eindrucksvoll, dass deren Politik so notwendig wie hilflos war. Was Herr Lange als Vertreter des „landes“, der DDR, im Großen tat: mit guten Gründen den Frieden zu sichern, dafür auf den revolutionären Kampf zu verzichten und auf diese Weise am Ende das Land und damit den Frieden zu verlieren, das tun die Insel-Aktivisten der SEW im Kleinen. Sie sind in jeder Bürgerinitiative. Sie reiben sich in Kämpfen auf wie dem um den Erhalt des Krankenhauses, das der „soziale kanzler“ schließen will. Sie veranstalten Frie­dens­festivals, mobilisieren dafür Künstler (die dann in der Parteizeitung nicht mehr ästhetisch kritisiert werden sollen, denn sie sind ja auf der richtigen Seite). Kurz: Sie sind das Rückgrat einer sozialen und bürgerlich-demokratischen Opposition, die das Bürgertum selbst nicht mehr zuwege bringt. Und um diese Opposition zu stärken, setzen die Kommunisten auf breite Bündnisse – die doch nie so breit werden, dass sie ernsthaft die Machtfrage zu stellen vermögen. Die Kommunisten tun alles, um nicht zu zeigen, dass sie Kommunisten sind.

Schernikau schildert all das ohne Hohn. Nicht nur, dass er auch selbst an dieser Praxis beteiligt war – das könnte er als Fehler be­nen­nen und hinter sich lassen. Vielmehr gab es gute Gründe für diese Politik. Das Gegenteil von reformistischen Forderungen, oft auch nur von Verteidigungskämpfen, ist die bewaffnete Aktion, die die Götter versuchen. Der Versuch, den entführten Anton Tattergreis im Krankenhaus zu verstecken, fliegt wegen der Dummheit einer Pflegerin auf. Die Arbeiterklasse begreift durchaus die Verhältnisse, aber nicht die Ansätze, diese zu verändern.

Das ist kein böser Gag, sondern Analyse. Die Kommunisten stehen vor der Frage, wie revolutionäre Politik in langandauernden nichtrevolutionären Zeiten zu machen sei. Trotz aller Schwierigkeiten entsteht aus der gemeinsamen Praxis stets auch ein sozialer Zusammenhalt. Das wird besonders im Teil VI deutlich, in dem sich ein Großteil der Handlung in ein besetztes Haus verlagert, ein gemeinsames Fest ansteht, aber auch die Polizei mit einer Räumung dreinschlägt. Kommunistische Praxis, wie mangelhaft sie auch sein mag, ist stets besser als keine kommunistische Praxis.

Sinnlichkeit

Gemeinsamkeit hat in der LEGENDE oft mit Sex zu tun. Nach ihr und nach ihm suchen die Vertreter der gegensätzlichen Parteiungen. Anton Tattergreis etwa sehnt sich nach Janfilip Geldsack und lässt sich, als dieser sich ihm entzieht, von Wieland bedienen, der auch als karrieristischer Arzt im Krankenhaus auffällt. Janfilip aber erkennt früh (Teil II, Buch 1, Kapitel 2, Satz 6) die „ungeheure traurigkeit des späten kapitalismus“ und umgibt sich entsprechend mit jungen Leuten, „die janfilip bezahlt und die ihn immer aufmuntern müssen“ (Satz 10). Die gehorchen und höhnen zugleich („alle verse werden großgeschrieben“): „Die Sorgen habn wir nicht. Nein, wirklich nicht! / Haha, die Sorgen wolln wir habn, Janfilip! / Ach gib uns deine Sorgen her. Ach! Gib sie! / Wir nehmen sie. Und auch dein Geld dazu.“

Reichtum isoliert; Janfilip wird, bei allen Versuchen, sich abzuschaffen, nie zufrieden. Im besetzten Haus aber kommt es zu wenigstens momenthaft glücklichen Beziehungen. Dabei geht es um Sex (das ist für den homosexuellen Autor Schernikau Sex zwischen Männern). Er wagt sich damit an einen Stoff, an dem viele Schriftsteller, denen vieles geglückt ist, scheiterten. Entweder wurden körperliche Vorgänge metaphorisch verschämt angedeutet: Man will das zwar schildern, aber so richtig traut man es sich doch nicht. Oder es wurde im Gegenteil besonders vulgär, wobei grob sprachlich abstoßend wirken kann, was doch in der Praxis erfreut. Die dritte Variante ist die der verekelten Sexualität: Alles ist Gewalt, alles ist mies, und es herrschen Details vor, die man eigentlich gar nicht wissen möchte. Die derbe Einzelheit zu benennen, ihr gleichwohl mittels Sprache eine sinnliche Qualität zu verleihen, die einen geglückten Austausch bezeichnet, das ist eine sehr seltene Kunst. Man findet sie in der LEGENDE.

In der Einlage UND ALS DER PRINZ MIT DEM KUTSCHER TANZTE, WAREN SIE SO SCHÖN, DASS DER GANZE HOF IN OHNMACHT FIEL. EIN UTOPISCHER FILM (Teil V) sind die Ebenen von Politik und Liebe miteinander gekoppelt, ohne dass sie ineinander völlig aufgehen würden. Vielleicht ist dieser Teil als Einstieg in die LEGENDE besonders geeignet, weil Schernikau hier einer gewohnten Figurenpsychologie näher steht als in der Haupthandlung. Allerdings ist der Teil V wie ein Filmentwurf geschrieben, was die Figuren wiederum in eine gewisse Distanz rückt. Man erfährt, was sie sagen und was sie tun – und nur vermittelt darüber, was sie fühlen. Ergebnis ist eine große Plastizität, gerade in der Schilderung körperlichen Vergnügens. Das Glück freilich wird zerstört durch eine so überflüssige wie unvermeidliche Eifersucht, oder, wie der Verfasser kommentiert: „dieser film erzählt von vier jungen menschen, die versuchen, ihre liebe zu organisieren. ihr problem ist, daß ihre liebe längst organisiert ist. ihre liebe ist organisiert in ausschließlichkeit, in notwehr und zweisamkeit. als zwei von ihnen mehr als einen anderen lieben können, steigen die beiden andern aus.“ Die Utopie, die der Untertitel verspricht, ist keine bloße Hoffnung für die Zukunft, sondern Aufgabe für die Gegenwart, wobei stets das Scheitern droht.

Werkgeschichte

Als Schernikau 1983 die Konzeption der LEGENDE begann, waren ihm Umfang und Anspruch des Projekts noch kaum bewusst. Der Mitherausgeber Lucas Mielke zitiert im Nachwort der Neuausgabe einige Dokumente aus dem Nachlass, die einen allmählichen Prozess der Klärung belegen. Frühe Teile sind die Nummern III und V, jetzt Einlagen, die von der Verbindung kommunistischer Politik und schwulen Liebens handeln und in die relativ viele autobiographische Momente eingegangen sind. Besonders UND ALS DER PRINZ MIT DEM KUTSCHER TANZTE ist eng mit der Westberliner Szene verbunden.

Die Haupthandlung von Göttern, Land und Insel entstand langsamer und war problematischer. Wer über die Gegenwart schreibt und für das Buch acht Jahre braucht, wird mit Wandlungen konfrontiert. Die DDR wurde zerstört; ohne das Land wurde die Insel das Ganze. Doch zeichnet Schernikau es als Ganzes ohne Perspektive. Am Ende steht der Untergang auch der Insel. Es ist dies ein Ende, in dem sich Katastrophe und Zukunftshoffnungen über­kreuzen, in das auch Schernikau seinen eigenen nahen Tod eingeschrieben hat; er starb 1991 kurz nach Beendigung des Manuskripts an den Folgen einer HIV-Infektion. Dabei wurde das absehbare Sterben nirgends zum Anlass zu jammern. Vielmehr führt es zu klugen Gedanken über das individuelle Ende und über die Möglichkeiten, dieses zu bewältigen. In der LEGENDE ist dies mit Gesellschaftsgeschichte verknüpft.

Eine zureichende Interpretation ist hier nicht zu leisten; die LEGENDE ist bisher nur annährungsweise verstanden. Leichter zu verstehen ist dagegen, dass ein solches Buch 1991 keine Chance hatte. Erst 1999, nach einem unter anderem von Peter Hacks unterstützten Subskriptionsaufruf, erscheint bei dem Dresdner Verlag ddp goldenbogen der vollständige Text, in dessen Anhang so verfeindete Autoren wie Peter Hacks und Elfriede Jelinek das Buch loben. Es bezeichnet die Schwierigkeiten, die dieses Buch haben musste, dass beim Elbhochwasser 2002 das Lager des Verlags vernichtet wurde. Immerhin konnte 2003 eine kleine Nachauflage erscheinen, die aber auch schon seit langem vergriffen ist.

Allein schon deshalb ist die Neuausgabe willkommen. Doch bietet sie auch, über den Text hinaus, wichtige Ergänzungen. Das erwähnte Nachwort von Lucas Mielke behandelt neben der Entstehungsgeschichte und li­te­rarischen Verbindungen Schernikaus auch dessen Ästhetik. Zutreffend hebt Mielke die Bedeutung der Schönheit hervor, nicht als Verkitschung, sondern „als Chiffre für die mögliche Gestaltung der Welt, für ein lustbetontes Leben im Kommunismus“. Pro­ble­ma­tisch wird das, wenn er die Utopie verabsolutiert. Im Teil IX, Buch 3, gibt es als Einlage den Artikel „politik mögen“ von 1985. Bei Schernikau heißt es dort: „politik ist so einfach. wer chile nicht will, muß afghanistan wollen.“ Der sozialistische Demokrat wird nur dann nicht ermordet, wenn zu seiner Unterstützung Panzer rollen. Das ist eine Spannung, die Schernikau verarbeitet hat und die Mielke an den Rand zu rücken versucht.

Hilfreich ist der ausführliche Kommentar. In ihm sind zahlreiche Zitate nachgewiesen, die sich in der LEGENDE finden. Das belegt die Weite von Schernikaus Interessen und erleichtert das Verständnis insbesondere dort, wo er den Wortlaut verändert, zum Teil ins Gegenteil verkehrt. Es bietet auch einen Einblick in seine Arbeitsweise. Man kann manchmal widersprechen: Nicht alle Vorlagen, die die Herausgeber anbieten, wirken überzeugend. Andere hingegen, mit denen die wörtliche Übereinstimmung größer ist, fehlen. Doch ist hier eine wichtige und für die Interpretation des Werks wegweisende Arbeit geleistet. Oben wurde behauptet, dass es wenig Schulwissen erfordere, die LEGENDE zu lesen. Zugleich stimmt es, dass ohne die Kenntnis dessen, worauf sich Schernikau bezieht, eine Dimension des Buches verschlossen bleibt. Viele seiner Verweise auf die Zeit- und Alltagsgeschichte sind bereits heute kaum mehr Allgemeinwissen – dank der Kommentatoren bleiben sie nachvollziehbar.

Nur wenige Einträge gehen über Sach­in­for­ma­tionen hinaus und geben Inter­preta­tions­hinweise. Man kann darüber streiten, ob dies die Funktion eines Kommentars ist. Kein Streit kann sein, dass hier eine Grundlage für jede künftige Interpretation geleistet ist. Die Neuausgabe erleichtert den Zugang zu einem wichtigen Buch. Das Gewichtige des Inhalts bleibt, doch das Einschüchternde des ersten Eindrucks verschwindet. Man lernt, sich in dem Labyrinth der LEGENDE zu bewegen und entdeckt die Schätze, die in jedem seiner Winkel angehäuft sind.

Ronald M. Schernikau: LEGENDE. Hg. von Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck. Verbrecher Verlag: Berlin 2019