Ein schwerer Klotz voll Federn

Acht Jahre lang schrieb Ronald M. Schernikau an seinem gigantischen Roman "legende". In den zwei Wochen vor seinem Tod 1991 schaffte er es noch, das Manuskript an Verlage und Lektoren zu verschicken, doch keiner wollte das Werk des grellbunten schwulen Kommunisten drucken. Dank prominenter Fürsprecher konnte es jetzt erscheinen. FELIX KLOPOTEK hat das Buch gelesen.

Die Götter machen sich Sorgen. Es gibt nämlich keine neuen mehr. Vier von ihnen, fifi, kafau, stino und tete, sitzen im Himmel und schauen sich etwas bedrückt um: "sagmal, sagt fifi, gar keine neuen mehr. kafau kuckt sich um und sagt: tatsächlich. das kann doch nicht sein!, ruft stino mutig. tete aber sagt: es ist so."

Die Götter sind gute Wesen, sie kämpfen für die Einrichtung des Glücks auf der Welt. Aber irgendetwas stimmt nicht, da unten müssen schlechte Zeiten herrschen, sonst hätten sie ja längst Nachwuchs bekommen. "Da unten", das ist die Insel der Vergangenheit in mitten des Landes der Zukunft. Auf diese Insel müssen die Götter zurück, um nach dem Rechten zu schauen und Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen.

Was so wolkig beginnt, wird bald ziemlich handfest. Die Insel der Vergangenheit, das ist West-Berlin, das Land der Zukunft ist die DDR, und die Götter sind auch nicht irgendwer. Fifi war zu Lebzeiten Ulrike Meinhof, die Journalistin und spätere Terroristin, kafau war einst die berühmte Schauspielerin Theresa Giehse. stino hieß Max Reimann und war der Vorsitzende der KPD nach dem zweiten Weltkrieg, und tete war Klaus Mann, der suizidale Schriftsteller.

Leider sind die Götter ziemlich machtlos. Sie sind unsichtbar, auf den Flugblättern, die sie drucken, steht nichts drauf, und die Menschen, nach denen sie rufen, hören sie nicht. Sie scheitern. Und während sie scheitern, erleben wir das bunte, schrecklich-schöne Treiben auf der Insel. Den Großindustriellen und Monopolisten Anton Tattergreis und seinen Liebling Janfilip Geldsack, die durch einen aufwendig inszenierten Osthandel erst die DDR und dann sich selbst ruinieren. West-Berliner Kommunisten wie Fank, Berbel und Marianne Komenski, die völlig marginalisiert sind und sich in ihrer Parteiarbeit und ihren zahlreichen Kämpfen für Kindergärten und gegen reformistische Gewerkschaften aufreiben. Irene Binz, die einst die DDR wegen ihrer großen Liebe verließ und das später bitter bereute. Die schwule WG von Franz und Paul, die ihr Leninposter mit rotem Lippenstift anmalen.

Das ist Legende, das Hauptwerk, der große nachgelassene Roman Ronald M. Schernikaus. Genauer: es ist ein kleiner Ausschnitt daraus. Denn das Buch ist ein Klotz, es beinhaltet einen gut 800 Seiten starken, zweispaltig und in kleiner Schrift gesetzten Text. Schernikau verzichtet durchgehend auf Großschreibung und weitgehend auf Interpunktion. Das Buch ist wirklich ein Klotz. Und hat eine eigentümliche Geschichte.

Fangen wir mit dem Ende an: Schernikau stirbt im Oktober 1991 31-jährig an den Folgen von AIDS. Sein kurzes Leben verlief rasant. Als er sechs ist, flüchtet seine Mutter aus der DDR, den kleinen Sohn hat sie im Kofferraum versteckt. Mit 19 hat Schernikau ersten literarischen Erfolg, er veröffentlicht im Rotbuch Verlag die "kleinstadtnovelle" und wird seitdem als literarisches Talent gehandelt. Er zieht nach West-Berlin, wird Kommunist, Mitglied der Sozialist- ischen Einheitspartei Westberlins (SEW) und ist eine schwule Diva. Zwischen 1986 und 1989 kann er aufgrund eines Kulturabkommens zwischen DDR und BRD am Johannes R. Becher-Institut in Leipzig Literatur studieren und nimmt Kontakt zu Peter Hacks, dem (real-)sozialist- ischen Goethe, auf.

Die DDR und ihre West-Genossen sind irritiert über diesen grellbunten Sozialisten, der fest entschlossen ist, sie zu lieben. Seine Erfahrungen während des Studiums, "die tage in l.", dürfen in der DDR nicht erscheinen. Er veröffentlicht das Buch im Konkret Literatur Verlag. Im August 1989 emigriert er in die DDR - und diskreditiert sich in den Augen des bürgerlichen Feuilletons dadurch völlig. Schernikau war keinem geheuer. Den einen nicht, weil er schwul und Hedonist und Parteikommunist war. Den anderen nicht, weil der utopische Gehalt des Buches in Zeiten der anti-kommunistischen Tristesse zu nonkonform und zu far out war. Und dann ist da dieser Text: an die oben skizzierte Handlung hält er sich nicht. Schernikau lässt sie zersplittern in Wiederholungen, jähen Brüchen, verstörenden inneren Monologen. Was anfängt wie ein Mythos, entpuppt sich als Montage, in der erotische Phantasien, Theaterstücke, Lustspiele, Märchen, Zeitungsschnipsel, gefakte Dokudramen ("Ein Lied für Rostock", die DDR richtet den Grand Prix d'Eurovision aus) oder Protokolle aus der alltäglichen Parteiarbeit in einem ebenso dichten wie überraschenden Rhythmus angeordnet sind. Dazu kommt, dass Schernikau jeden Abschnitt, jeden Satz durchnummeriert und jedes Kapitel in mehrere Bücher und sogenannte Einlagen unterteilt, wobei man die Einlagen bei Nichtgefallen heraustrennen und an den Autoren zurückschicken soll.

Ein Klotz, wie gesagt. Aber einer, der so leicht sein kann wie ein Sack Federn. Denn Legende ist natürlich sehr komisch (und sehr tragisch). Da sind zum einen die unglaublich packenden Beschreibungen der Ohnmacht und der obsessiven Selbstzweifel der Kommunisten im Kapitalismus: "der irrtum / der irrtum ist: wo es mir gut gehen soll, da geht es mir auch gut, wo ich politisch arbeite, da fühl ich mich auch wohl. wo ich eine sinnvolle aufgabe kriege, da bin ich auch optimistisch. wo es um antimonopolistische wasweißich geht, da haut das auch hin mit dem beschreiben. ein irrtum, wie gesagt." Wenn man dann liest, dass diese Gespräche zwischen einem "grotesk attraktiven kommunistischen model" und einer "verrückten kommunistischen flötistin" in einer "geschmacklos eingerichteten kommunistenwohnung" geführt werden, dann wird das Düstere gebrochen. Es wird grotesk, ohne dass Schernikau die Probleme und die Kämpfe diskreditieren würde. Schernikau jongliert mit Bleikugeln, und das macht ihm auf unverschämte Weise Spaß. Man ist verwirrt, wie geht das alles zusammen?

Heutzutage ist es so, dass man sich kommunistische Intellektuelle als Zerrissene vorstellt: auf der einen Seite das literarische, essayistische Werk, auf der anderen Seite der Dichter oder Philosoph, der sich in die bürokratischen, persönlichkeitsfeindlichen Fänge der Partei und des realsozialistischen Staates verstrickt. Egal, ob Philosophen wie Georg Luckacs, Schriftsteller wie Brecht oder Komponisten wie Hanns Eisler, sie alle sind Schöpfer großartiger Werke aber ebenso tragische Figuren großer, stalinistischer Verirrungen. Sie sind gescheitert und es gilt, Brechts Liebesgedichte gegen seine Lehrstücke zu verteidigen. So jedenfalls lautet die (bürgerliche) Vorgehensweise, wie man prominente Kommunisten einzuordnen hat.
Schernikau dreht dieses Verhältnis um. Es ging ihm nicht darum, Widersprüche auszuhalten, z.B. DDR-Liebhaber und west-sozialisierter Exzentriker zu sein. Er verstand diese Widersprüche dialektisch, als etwas, was sich im Fluss befindet, sich gegenseitig aufhebt, ergänzt, aneinander reibt, begrenzt und dadurch formt. Widersprüche waren für ihn keine Tragik, sondern eine Tätigkeit. Tragisch wird es erst, wenn die Leute versuchen, sich in ihren Widersprüchen einzurichten und aufhören zu kämpfen. "keiner stirbt, wenn er nicht will, und jeder lebt, solange er weitermacht. das problem ist: die leute machen nicht." Und an anderer Stelle heißt es: "bloß moralisch ist die empörung über den umstand, dass einer unschuldig im gefängnis sitzt; in der bürgerlichen Literatur sind sie immer unschuldig. wirklich interessant aber sind doch die, die wirklich etwas gemacht haben. und etwas machen geht!"

Jetzt endlich fand "Legende" prominente Fürsprecher wie Elfriede Jelinek und Peter Hacks, den KONKRET- Herausgeber Hermann L. Gremliza und den Marburger Politologen Georg Fülberth. Der Dresdener Kleinverlag ddp goldenbogen ging das Risiko ein und trommelte die Subskribienten zusammen. Neuveröffentlichungen vergriffener Schriften sind angekündigt. Fast neun Jahre nach seinem Tod und elf Jahre nach seiner BRD-Flucht, kann man einen nüchternen, abgeklärten Blick auf diesen Kommunisten werfen. Aber das trifft's nicht. Fast neun Jahre nach seinem Tod verstört und fasziniert Schernikau immer noch.

Ronald M. Schernikau, Legende. Verlag ddp goldenbogen, Dresden 2000, 846 Seiten, 68 Mark.

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